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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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durch
    das Fenster hereinsprangen. Er erkannte sie als Symbolfiguren seines eigenen Zorns, eines Zorns, den er schon sehr früh im Leben verdrängt hatte und erst jetzt hinter einem Vorhang von Symbolen und Erinnerungsfetzen neu zu entdecken begann.
    Welche Veränderung in der Lebensauffassung des Patienten
    Vind seiner Einstellung vor sich ging, wird vollends deutlich,
    wenn man den Anfang seines vor der Behandlung verfaßten
    Lebenslaufs mit der etwa eine Woche nach der Behandlung
    entstandenen Version vergleicht. Vor unserem Gespräch begann er wie folgt:
    »Ich kam am 1. August 1930 im Haus eines hochangesehenen
    Geschäftsmannes zur Welt, der einer der ältesten Familien
    der Stadt entstammte.«
    Hier zeigt sich eine Parallele zum Verhalten des vorigen Patienten, als er das heimatliche Eßzimmer erwähnte. Dieser Patient ignorierte zunächst seine wahren Gefühle in bezug auf dieses
    Zimmer, das die Folterkammer seiner Jugend gewesen war. Er
    hatte sie mit dem Hinweis auf die soziale Stellung seiner Eltern
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    zugedeckt, den er durch den polierten Tisch und die Ziertassen
    signalisierte.
    Auch der jetzige Patient beginnt mit dem Hinweis auf das
    »Ansehen« seiner Eltern und schildert sie nach dem Maßstab
    der Werte, die ihnen am meisten bedeuteten. Auch ihn hatten
    sie weitgehend im Sinne dieser Werte geformt, auch er hatte
    »seinem Selbst abschwören« müssen. Und wenn ein Kind seinen wahren Gefühlen und Gedanken entsagen muß, bleibt es äußeren Einflüssen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Gerade für diesen Jungen brachte das »Selbst-Sein« soviel Ärger durch seine Mutter und seinen älteren Bruder mit sich, daß er,
    zumal es ihm an einem starken Vater, der seine Partei ergriff,
    fehlte, damit nicht fertigwerden konnte. Zwar zeigte der Vater
    Verständnis für seinen Jungen, und das erklärt die große Anhänglichkeit des Knaben, doch war der Vater schwach und nachgiebig. Nach der Sitzung schwenkte der Patient dann vollkommen um. Der Vater ist nicht mehr der geachtete Mann, der sich so viel um ihn kümmert und ihm seine Liebe zeigt:
    »Er ist in meinen Augen ein schwacher Mann, den ich immer
    gelenkt, gelegentlich sogar gescholten habe. Er weiß nicht,
    was er will, und ist ziemlich feige. Das heißt, er hat alle
    Mängel, die ich an mir selber sehe. Ich konnte nie offen mit
    ihm reden, da er ein ziemliches Klatschmaul war und sofort
    alles weitererzählt hätte. Nie hat er mir in irgendeiner Sache
    beigestanden.«
    Diese Sicht entspricht zweifellos mehr seinen wahren Gefühlen, und dieser neue Blickpunkt steht vermutlich in Beziehung mit der veränderten Wahrnehmung seiner selbst: Er hält sich
    nicht für homosexuell. Man darf damit rechnen, daß er sich nun
    seinen wahren Gefühlen mehr öffnet. Das Bedürfnis nach Unterstützung durch den Vater oder durch Vaterfiguren der männlichen Welt wird geringer werden. Er ist einen Schritt
    vorangekommen, doch noch hindert ihn ein Schuldgefühl
    daran, das unbekannte Stadium seiner Kindheit mit der heutigen Auffassung von seiner Mutter in Übereinstimmung zu bringen. Es ist sehr aufschlußreich, seine Gefühle den weiblichen Familienangehörigen gegenüber während der Behandlungszeit
    zu verfolgen. Alles, was er über seine Mutter äußert, ist bereits
    in dem im ersten Lebensbericht zitierten Abschnitt enthalten:
    »Was meine Mutter betrifft, glaube ich, daß sie mich liebte,
    doch zeigte sie es nie, im Gegensatz zu meinem Vater, der
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    seine Gefühle mehr äußerte als sie.«
    Seine Frustration wird hier kaum angedeutet; nicht nur, daß er
    sich über seine Reaktion nicht äußert, er gibt seiner Mutter
    auch keine Schuld. Statt dessen gelangt er zu der Konstruktion,
    eine Charaktereigenschaft - die geringere Expressivität - sei
    der Grund dafür gewesen, daß sie ihre Zuneigung nicht
    zeigte.
    An anderer Stelle gibt er zu erkennen, wie der Tod seiner
    Mutter auf ihn gewirkt habe:
    »Als ich neun Jahre alt war, starb meine Mutter an einer
    Herzkrankheit, an der sie schon lange gelitten hatte. Ich
    entsinne mich oder glaube mich zu entsinnen, daß ich nicht
    geweint habe und daß ich weiter im Haus meines Vetters
    bleiben wollte, wohin man mich während der Beerdigungsfeierlichkeiten geschickt hatte, wo ich mich sehr wohl fühlte und viel Spaß hatte.«
    Uber seine Stiefmutter sagte er ganz offen:
    »Ich haßte sie. Diese Frau hat mich nie geliebt und sie
    brachte uns alle auseinander, meine älteste Schwester ausgenommen, die mir immer große

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