Die Reise zum Ich
weil du mich nicht verraten wolltest. Sie haben dem König im Hause den Fuß verknackst. Armes
Kind.‹
Meine jüngere Schwester: ›Du bist also schuld! Sieh dir an,
■was sie deinetwegen mit Roberto gemacht haben. Du bist
grundschlecht. Dir werde ich’s beibringen.‹
Der Vater: ›Seht mal, was Sara gemacht hat! Wie konntest du
es wagen, dem Jungen das anzutun? Du bist daran schuld!‹
Und er schlug sie mit dem Lineal auf die Fußsohlen.
›Schlage sie nicht, Vater. Ich hab’s gern getan, gern!‹
Die Mutter: ›Was habe ich getan! Ich hab ihm den Fuß
verrenkt und mein Mann wird böse sein. Vergib mir, Roberto, ich wußte nicht, was ich tat.‹
Ich: ›Du stinkst, Mutter, warum badest du nicht? Komme
nicht, mich von der Schule abzuholen, ich schäme mich dei58
ner. Vater soll mich holen. Er ist nett, du bist bös. Du liebst
mich nicht, du hast mir den Fuß verdreht.‹
Mutter: ›Da haben wir’s, die Suse will mit seinem Vater
gehen. Die beiden sind vom gleichen Holz. Schwach. Der
einzige Mann im Haus ist Fernando. Er ist mein Sohn, er ist
wie ich.‹
Ich: ›Das magst du wohl nicht, daß ich eine Suse bin. Das
werde ich auch weiter sein, und jedesmal werde ich es dem
Vater sagen, wenn du mich so nennst.‹
Der Vater: ›Mit was für einem Weibsbild bin ich verheiratet!
Was hat sie ihrem Sohn getan! Ich kann mir vorstellen, was
sie von mir hält, das Gleiche wie von ihm. Tatsächlich, der
einzige Mann im Haus ist Fernando, er ähnelt ihr.«
Fernando: ›Vater liebt Roberto am meisten, aber nachdem
ich das von Roberto erzählte, habe ich Mutter für mich.«
Die jüngere Schwester: ›Nachdem ich das von Sara erzählte,
habe ich Vater für mich. Armes kleines Kind! Wie traurig,
daß sie ihm den Fuß verrenkt haben. Sieh mal, Vati, wie ich
Roberto liebe, auch ich.«
Fernando: ›Du Suse, du Suse! Der einzige Mann im Haus bin
ich.‹
Ich: ›Vati, Fernando sagt immer Suse zu mir.‹
Der Vater: ›Laß deinen Bruder zufrieden, Fernando. Siehst
du nicht, daß er leidet nach der Geschichte mit seinem
Fuß?‹«
Diese Aufzeichnung entspricht dem tatsächlichen Ablauf des
Geschehens insoweit, als ich ihn aufgefordert hatte, sich in die
Rolle der verschiedenen Familienangehörigen zu versetzen und
sie so sprechen zu lassen, wie sie angesichts der Situation aus
seiner Sicht reagiert hatten. Als er die Frage dieser Reaktionen
geklärt hatte, begann er sich um eine dämmerhafte Erinnerung
an einen späteren Vorgang zu bemühen. Der Prozeß der allmählichen Rückkehr der Erinnerung spielte sich ähnlich ab wie bei unserem ersten Patienten: Das Zimmer, in dem seine Mutter zu Bett lag, seine künftige Stiefmutter, die mit der Pflegerin sprach, Bemerkungen über die Dosis der Medizin, sein
Wunsch, daß die Mutter sterben möge, und nachher sein
Schuldgefühl. Als die Drogenwirkung abklang, war er plötzlich
überzeugt, den Tod seiner Mutter verursacht zu haben: Er habe
ihr mehr Tropfen gegeben als vorgeschrieben. Gleichzeitig aber
zweifelte er an der Stimmigkeit seiner einigermaßen vagen
»Erinnerung«.
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Im Lauf der folgenden zwei Tage war der Patient weitgehend
arbeitsunfähig. Immer wieder mußte er an die unter Drogeneinfluß ihm wieder lebendig gewordenen Vorgänge denken.
Abwechselnd hielt er sie für wahr und akzeptierte sie oder er
zweifelte an ihnen, hielt sie für von der Droge hervorgerufene
Täuschungen. Andererseits hatte er das Gefühl, als sei der
durch die Behandlung in Gang gebrachte Prozeß noch nicht
abgeschlossen, und vergebens mühte er sich, die Erinnerung an
bestimmte Umstände im Zusammenhang mit dem Tode seiner
Mutter wachzurufen. Aber je mehr Tage vergingen, desto stärker war er von der Wahrheit der Episode mit dem Gärtner überzeugt, und parallel dazu verschwanden seine Zweifel in
bezug auf seine Maskulinität. Sein Selbstvertrauen im Umgang
mit Menschen nahm beträchtlich zu, und er glaubte, sich unbefangener verhalten zu dürfen. Doch nun lasteten Schuldgefühle auf ihm. Jetzt war es ihm nicht mehr so wichtig, ob er homosexuelle Tendenzen hatte oder nicht, und zum ersten Mal in seinem Leben war er imstande, die Frage offen mit anderen
zu diskutieren. Seine Schuldgefühle hatten sich nunmehr verlagert: Er hielt sich für einen Mörder, der es nicht fertigbrachte, zu gestehen. Noch immer verfolgte ihn ein Traum, den er einige Tage nach unserem Gespräch gehabt hatte: Er
nahm an der Beerdigung seiner Mutter teil, als Tiger
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