Die Reise zum Ich
noch so einmalig sein.
Ungewöhnlich
an
dieser
Krankengeschichte
erscheint
die
scharfe Trennung zwischen der anfänglich normalen Entwick54
lung in einer Atmosphäre der Liebe und jener anderen, in der
sich das Kind mit der Forderung konfrontiert sah, sich entwicklungshemmenden Tendenzen anzupassen. Es ist denkbar, daß dieser mit einem Überwechseln vom »Sein« zum »Scheinen«
parallel verlaufende Übergang von Nana zu Mama auch
sprachliche Ausdrucksschwierigkeiten mit sich brachte. Da er
in der Mutter seine Nana suchte, mag es vorgekommen sein,
daß er sie versehentlich mit Nana anstatt mit Mama rief oder
anredete. Und als Nana und alles, was damit zusammenhing,
zum Verbotenen wurde, muß schon das Wort Nana beziehungsweise Mama für ihn konfliktbesetzt gewesen sein.
Es war eine glückliche, doch blinde Eingebung, daß ich meinen
Patienten anwies, alles niederzuschreiben, was ihm durch den
Kopf ging: Daß er es zu Papier bringen mußte, trug dazu bei
oder ermöglichte es sogar erst, den seit Jahrzehnten verschütteten Konflikt wieder freizulegen. Jener Kanal, der von seinen Kindheitserlebnissen zu dem Blatt Papier vor ihm führte, war
mit Hilfe des MDA geöffnet worden; mit dem hochgradig
automatisierten Mittel der Erwachsenensprache wäre das Verschüttete sicherlich nicht so deutlich zum Vorschein gekommen.
Was geschehen wäre, wenn ich den Patienten nicht zur Niederschrift veranlaßt hätte, darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Wären die verdrängten Erinnerungen und Empfindungen auf anderem Wege zutage getreten? Konnte es sein, daß nun, nachdem die Assoziationskanäle einmal geöffnet worden waren, ihre Vereinigung auf dem Weg des geringsten Widerstands zustande kam - so wie das bergablaufende Wasser seinen Lauf je nach den im Weg liegenden Hindernissen
ändert?
Eine Antwort können vielleicht folgende Krankengeschichten
geben:
Im ersten Fall haben wir es mit einem fünfunddreißigjährigen
Mann zu tun, der sich seit Jahren im Bemühen um seine
menschliche Vervollkommnung mit der Disziplin einer bestimmten spirituellen Sekte befaßte. Dies teilte er mir gleich im ersten Interview mit; unter anderem äußerte er die Ansicht,
daß ein »echter« Mann eine Reihe von Eigenschaften wie Willenskraft, Verantwortungsgefühl und Freiheitsliebe aufweisen müsse, von denen er sich aber weit entfernt sehe. Mochte diese
Meinung vielleicht zutreffen, wurde mir doch relativ bald klar,
daß diesem Zweifel an seiner »Männlichkeit« die Angst zu55
gründe lag, er sei homosexuell, die er sich kaum selbst einzugestehen, geschweige denn seinen geistigen Führern anzuvertrauen wagte. Diese Furcht machte ihn unsicher, weil er annahm, wenn er sich zwanglos verhalte, könnte man ihn für feminin halten, ihn vielleicht sogar »demaskieren«. Diese Unsicherheit wirkte sich negativ im Umgang mit anderen Menschen aus, und zumal er Arzt war, bereitete ihm dies ernsthafte Sorge.
»Ich möchte Gewißheit haben, ob diese Befürchtungen illusorisch sind oder nicht.«
Folgende autobiographische Informationen stammen aus dem
Lebensbericht des Patienten vor Behandlung mit MDA und
sind höchst aufschlußreich:
»Wiederholt haben mir Familienangehörige erzählt, daß
meine Mutter alle neun Monate ihrer Schwangerschaft aufgrund eines Herzleidens im Bett verbringen mußte. Dieses Leiden führte später, als ich neun Jahre alt war, zu ihrem
Tod. Bei meiner Geburt wurde die Hebamme wegen der
schweren Entbindung nervös und verrenkte mir versehentlich den rechten Fuß. Aus diesem Grund lernte ich erst mit etwa fünf Jahren laufen. Nach langwierigen Behandlungen
wurde ich schließlich von diesem Schaden geheilt.
All diese Umstände hatten zur Folge, daß meine Eltern mir
besonders viel Zuwendung zuteil werden ließen; dadurch
verwöhnten sie mich und machten mich unruhig und eigensinnig, was wiederum meinen älteren Bruder sehr ärgerte. Er machte kein Hehl aus seinen Gefühlen, drangsalierte mich
unentwegt und nannte mich ›kleiner Bubi‹ und ›Suse‹. Ich litt
sehr darunter und war dauernd am Heulen, denn er war sechs
Jahre älter als ich und viel stärker. So konnte ich ihn nicht
verhauen, und wenn ich mich mal zu verteidigen versuchte,
spielte er mir sehr übel mit. Ich bekam eine derartige Wut auf
ihn, daß ich gelegentlich Messer und Schere nach ihm warf
und ihn verletzte. Trotz alledem war mein Bruder des Vaters
Liebling; stets hielt er ihn mir als leuchtendes Beispiel
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