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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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noch so einmalig sein.
    Ungewöhnlich
    an
    dieser
    Krankengeschichte
    erscheint
    die
    scharfe Trennung zwischen der anfänglich normalen Entwick54

    lung in einer Atmosphäre der Liebe und jener anderen, in der
    sich das Kind mit der Forderung konfrontiert sah, sich entwicklungshemmenden Tendenzen anzupassen. Es ist denkbar, daß dieser mit einem Überwechseln vom »Sein« zum »Scheinen«
    parallel verlaufende Übergang von Nana zu Mama auch
    sprachliche Ausdrucksschwierigkeiten mit sich brachte. Da er
    in der Mutter seine Nana suchte, mag es vorgekommen sein,
    daß er sie versehentlich mit Nana anstatt mit Mama rief oder
    anredete. Und als Nana und alles, was damit zusammenhing,
    zum Verbotenen wurde, muß schon das Wort Nana beziehungsweise Mama für ihn konfliktbesetzt gewesen sein.
    Es war eine glückliche, doch blinde Eingebung, daß ich meinen
    Patienten anwies, alles niederzuschreiben, was ihm durch den
    Kopf ging: Daß er es zu Papier bringen mußte, trug dazu bei
    oder ermöglichte es sogar erst, den seit Jahrzehnten verschütteten Konflikt wieder freizulegen. Jener Kanal, der von seinen Kindheitserlebnissen zu dem Blatt Papier vor ihm führte, war
    mit Hilfe des MDA geöffnet worden; mit dem hochgradig
    automatisierten Mittel der Erwachsenensprache wäre das Verschüttete sicherlich nicht so deutlich zum Vorschein gekommen.
    Was geschehen wäre, wenn ich den Patienten nicht zur Niederschrift veranlaßt hätte, darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Wären die verdrängten Erinnerungen und Empfindungen auf anderem Wege zutage getreten? Konnte es sein, daß nun, nachdem die Assoziationskanäle einmal geöffnet worden waren, ihre Vereinigung auf dem Weg des geringsten Widerstands zustande kam - so wie das bergablaufende Wasser seinen Lauf je nach den im Weg liegenden Hindernissen
    ändert?
    Eine Antwort können vielleicht folgende Krankengeschichten
    geben:
    Im ersten Fall haben wir es mit einem fünfunddreißigjährigen
    Mann zu tun, der sich seit Jahren im Bemühen um seine
    menschliche Vervollkommnung mit der Disziplin einer bestimmten spirituellen Sekte befaßte. Dies teilte er mir gleich im ersten Interview mit; unter anderem äußerte er die Ansicht,
    daß ein »echter« Mann eine Reihe von Eigenschaften wie Willenskraft, Verantwortungsgefühl und Freiheitsliebe aufweisen müsse, von denen er sich aber weit entfernt sehe. Mochte diese
    Meinung vielleicht zutreffen, wurde mir doch relativ bald klar,
    daß diesem Zweifel an seiner »Männlichkeit« die Angst zu55

    gründe lag, er sei homosexuell, die er sich kaum selbst einzugestehen, geschweige denn seinen geistigen Führern anzuvertrauen wagte. Diese Furcht machte ihn unsicher, weil er annahm, wenn er sich zwanglos verhalte, könnte man ihn für feminin halten, ihn vielleicht sogar »demaskieren«. Diese Unsicherheit wirkte sich negativ im Umgang mit anderen Menschen aus, und zumal er Arzt war, bereitete ihm dies ernsthafte Sorge.
    »Ich möchte Gewißheit haben, ob diese Befürchtungen illusorisch sind oder nicht.«
    Folgende autobiographische Informationen stammen aus dem
    Lebensbericht des Patienten vor Behandlung mit MDA und
    sind höchst aufschlußreich:
    »Wiederholt haben mir Familienangehörige erzählt, daß
    meine Mutter alle neun Monate ihrer Schwangerschaft aufgrund eines Herzleidens im Bett verbringen mußte. Dieses Leiden führte später, als ich neun Jahre alt war, zu ihrem
    Tod. Bei meiner Geburt wurde die Hebamme wegen der
    schweren Entbindung nervös und verrenkte mir versehentlich den rechten Fuß. Aus diesem Grund lernte ich erst mit etwa fünf Jahren laufen. Nach langwierigen Behandlungen
    wurde ich schließlich von diesem Schaden geheilt.
    All diese Umstände hatten zur Folge, daß meine Eltern mir
    besonders viel Zuwendung zuteil werden ließen; dadurch
    verwöhnten sie mich und machten mich unruhig und eigensinnig, was wiederum meinen älteren Bruder sehr ärgerte. Er machte kein Hehl aus seinen Gefühlen, drangsalierte mich
    unentwegt und nannte mich ›kleiner Bubi‹ und ›Suse‹. Ich litt
    sehr darunter und war dauernd am Heulen, denn er war sechs
    Jahre älter als ich und viel stärker. So konnte ich ihn nicht
    verhauen, und wenn ich mich mal zu verteidigen versuchte,
    spielte er mir sehr übel mit. Ich bekam eine derartige Wut auf
    ihn, daß ich gelegentlich Messer und Schere nach ihm warf
    und ihn verletzte. Trotz alledem war mein Bruder des Vaters
    Liebling; stets hielt er ihn mir als leuchtendes Beispiel

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