Die Reise zum Ich
will
wieder den gleichen Weg benutzen über die Wendeltreppe
hinab; indes gleite ich diesmal eine steile enge Röhre hinun154
ter, die schließlich in einer riesigen Gebärmutter endet. Ich
pralle von ihren Wänden ab; sie sind wie aus Gummi.
Nachdem meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, entdecke ich Unebenheiten in den Wänden, wie halb abgeheilte Narben, die von einer Riesenkürette herrühren
könnten. Ich hab das Gefühl, die Spuren von ungeborenen
Kindern vor mir zu haben.«
Aus diesen Wachträumen geht, wie bei den meisten der Fälle,
eines deutlich hervor; Viele Vorgänge in diesem Traum hätten
sich nicht abgespielt, wäre dieser Prozeß nicht gesteuert worden. Darüber hinaus kommt es zu den aufschlußreichsten Episoden ohnehin für gewöhnlich erst dann, wenn gewisse Widerstände abgebaut werden. Überließe man den Träumenden sich selbst, würde er geneigt sein, bestimmte Sequenzen abzubrechen, nur dem angenehmsten Aspekt seiner Imagination zu folgen oder ganz von ihr abzuschweifen. Der Therapeut darf
ihn unter Druck setzen, hineinzugehen ins brennende Meer,
trotz seines anfänglichen Desinteresses in seine Tiefen hinabzutauchen, den Monstern ins Auge zu blicken, an die verschlossene Tür zu pochen, was eine vermehrte Interaktion zwischen seinem Alltags-»Ich« und seinem anderen Selbst, dem Mittelpunkt seines normalen Bewußtseins und den symbolisch verschlüsselten unterbewußten Prozessen bewirkt. Im Traum dieses Mannes kommt immer drängender ein Verlangen nach allem, was er unter »Nässe« zusammenfaßt, zum Ausdruck:
Sinnlichkeit,
Geschlechtlichkeit,
Erdhaftes,
das
Weib,
die
Liebe. Mit seinem Eintritt in die Gebärmutter hat dieses Thema
die Klimax erreicht; danach tritt unvermittelt ein Wandel ein:
Statt »Nässe« begegnet er nun frustrierender »Trockenheit«.
Ich gehe von der Hypothese aus, daß Wunscherfüllungs-Fanta-
sien die Akzeptierung der eigenen Antriebe erkennen lassen,
während
Abwehrhaltungen
Ausdruck
verdrängter
Selbstverneinung sind. Mit anderen Worten: Erwecken die Träume angenehme Gefühle, rühren diese weniger aus der imaginierten Wunscherfüllung her als aus der Selbstbejahung, die ihrerseits
die Akzeptierung dieser Erfüllung erst ermöglicht.
Die letzten Episoden dieses Traums spiegeln seine langzeitliche
Verfassung und Emotionalität genau wider, die im Vergleich zu
der zuvor empfundenen inneren Freiheit und körperlichen
Schwerelosigkeit mit Recht als Regression anzusehen sind.
Nichstdestoweniger war sich der Patient seiner inneren Verfassung überhaupt nicht bewußt; nur unbewußt äußerte sich seine 155
Unzufriedenheit (in Form von Symptomen), während er in
seinem bewußten Leben erhebliche Resignation entwickelte
und die Unterdrückung seiner Spontaneität auch noch idealisierte. Erst im Gefolge der hier beschriebenen Sitzung, die ihm die Erfahrung seiner ungeminderten Spontaneität und seines
ganzen Selbst vermittelte, vermochte er den Gegensatz zwischen solchem Offen-Sein und der Sterilität seiner geordneten und sauberen, aber erkünstelten und selbstverneinenden »normalen« Lebensweise zu empfinden.
So brachte er die »Vernarbungen«, die Struktur der Gebärmutter mit der Vorstellung in Zusammenhang, seine Mutter habe mehrfach abgetrieben und auch, als sie mit ihm schwanger ging,
eine Abtreibung erwogen. Diese Idee, die auf einer Bemerkung
beruhte, die er als Kind mitangehört hatte, mag wiederum nur
das ihr zugrundeliegende Gefühl des Ungeliebtseins symbolisiert haben, von dem er zuvor nichts wissen wollte, dessen Vorhandensein er aber nunmehr zugeben mußte.
Die empfängnisverhütenden Schwestern seines »Traums« spiegeln das Verhalten seiner Mutter in seiner Kinderzeit wider.
Immer hatte sie ihn vor irgendwelchen eingebildeten Gefahren
und Krankheiten behüten wollen, hatte ihn strengen Diäten
und Zeitplänen unterworfen. Diese Neigung zur Überprotektion, zur Verhätschelung, hatte sie sich bis heute bewahrt: Als sie erfuhr, daß ihr fünfunddreißigjähriger Sohn sich einer psychotherapeutischen
Behandlung
unterziehen
wollte,
schickte
sie mir (einem Unbekannten für sie) einen detaillierten Bericht
über seine Krankheiten von der Zeit seiner Geburt an - eine
Geschichte, die sich in nichts von der anderer normaler Kinder
unterschied.
Mein Patient hatte sich eine Frau ausgesucht, die in vielen
seiner Mutter glich: intellektuell, moralisierend, verantwortungsbewußt, höflich, sexuell
Weitere Kostenlose Bücher