Die Reise zum Ich
»Manche Gesichter erschienen mir sehr schön und ausdrucksvoll«, berichtete er später. »Andere empfand ich als abweisend, ängstlich, sie zeigten ihre Schönheit nicht, sondern verbargen sie hinter Angst.« Die
Wahrnehmung, daß die meisten Menschen Masken trügen, wie
er es ausdrückte, verfolgte ihn noch den ganzen nächsten
Tag.
Nach der Sitzung spürte der Proband, daß die Drogenerfahrung
in mehrfacher Hinsicht ergiebig für ihn gewesen war. Einen
Monat darauf glaubte er auf verschiedenen Gebieten eine Besserung zu verspüren. In seiner Niederschrift heißt es:
»Schärfe der Wahrnehmung, Enthüllung des Wahren und
Echten: Die Erkenntnis, daß es Unrechte und unvollkommene Dinge in der Welt gibt, vernunftwidriges menschliches Verhalten, nur halb vollendete Werke ... Ich spüre jetzt das
Bedürfnis, darüber hinaus zu gelangen. Und so bejahe ich
Aggression deshalb, weil sie ein Mittel zu diesem Zweck
ist.«
An dieser Stelle möchte ich erwähnen, daß der Proband, der
trotz seines Wunsches nach Drogenerfahrung ein zufriedener,
unbeschwerter,
passiver
Viscerotoniker
war,
nunmehr
weit
zielstrebiger, aktiver und entschlossener wurde.
Ein weiterer Gewinn seiner Erfahrung, berichtete er, bestand
in der Klärung seiner familialen Beziehungen. Er sah jetzt seine
Eltern, wie sie wirklich waren; und er begriff, wie »kastrierend«
das Verhältnis zu seiner Mutter gewesen war.
Ein dritter Gewinn bestand für ihn in der Entdeckung des
Körpergefühls, der Erfahrung, daß sein Körper ein Ausdrucksmittel war, was ihm beim Tanzen bewußt wurde. »Die Erfahrung war mir sehr wichtig«, sagte er, »daß ich Bewegungen mache, die mir nicht eigen sind, sondern entlehnt, zweckgerichtet - nicht Äußerungen meines innersten Seins.« Die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen dem, was seinem »inneren Sein«
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entspringt und dem, was ihm nicht wirklich entspricht, scheint
auf der gleichen Bewußtseinsebene zum Durchbruch gekommen zu sein, die ihn zwischen echt und unecht in anderen Bereichen unterscheiden läßt, und ist die Quelle seines neuen
Verlangens nach größerer Erlebnistiefe, Aktivität und vertieften menschlichen Beziehungen. Sie ist es vermutlich auch, der ein anderer Erkenntnisfortschritt zu verdanken war: ». . . daß
die Menschen deshalb Masken tragen, weil sie ihre Ängste
dahinter verbergen.«
Gleichzeitig ging ihm zu guter Letzt auf, daß sein vermeintlicher Mangel an Religiosität und all seine religiösen Schwierigkeiten lediglich imaginär waren.
Hier muß hinzugefügt werden, daß unser Proband - ein frommer und ziemlich bekehrungseifriger Katholik - eine Klosterschule besucht hatte und mehreren kirchlichen Organisationen angehörte. Menschen, die ihn näher kannten - und auch mir-erschien seine Religiosität etwas konventionell. Bei diesen »religiös« etikettierten Problemen ging es vorwiegend um die Entscheidung, wie weit und in welcher Form die Autorität der Kirche zu respektieren sei. Bemerkenswert war indes in diesem
Fall, daß ihm nicht bei der Kontemplation seiner Lebensprobleme die Erleuchtung kam, nämlich daß religiöse Überlegungen dieser Art und die eigentliche religiöse Erfahrung zwei ganz verschiedene Dinge sind, sondern bei der Betrachtung der Bilder in The Family of Man : Auf einem der Fotos war ein in tiefste Andacht versunkener buddhistischer Mönch zu sehen,
auf einem anderen daneben ein Mann, der in götzendienerischer Ehrfurcht vor einem kirchlichen Würdenträger kniete.
Die hier nur gekürzt wiedergegebene Sitzung erbrachte eine
ganze Reihe von erhellenden, therapeutisch ergiebigen Situationen: Entspannung, Tanz, Kontemplierung von Gegenständen, Fotos und Personen, Ausagieren von Traumfantasien, Traumverarbeitung und gesteuerter Wachtraum - alle als mögliche Wege zur Selbstentfaltung, zur Selbsterfahrung sowie auch
zu
komplizierteren
psychotherapeutischen
Verfahrensweisen. In diesem speziellen Fall darf man das Fazit ziehen, daß
der durchlaufene Prozeß der Selbst erfahrung, der Selbst fin-
dung, des Selbst ausdrucks der Kontaktfähigkeit zur Umwelt
zum Vorteil gereichte. Das elementare Erleben des Tanzes
hatte für ihn in der Entdeckung des eigenen Stils , der eigenen
Bewegung bestanden, und zur Entdeckung der Wahrheit der
Dinge wurde er durch die Betrachtung äußerer Objekte und
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Personen mit eigenen Augen geführt, deren Funktion er in
gewisser Hinsicht hatte brachliegen lassen. Seine Traumvisionen indes waren von
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