Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
Vom Netzwerk:
vier
    Gestalttherapie-Sitzungen
    teilgenommen
    und
    wie
    gefordert,
    seine Lebensgeschichte niedergeschrieben. Fünfundvierzig Minuten nach Einnahme der Droge meldete er das Eintreten einer tiefen Entspannung und äußerte den Wunsch, sich auf der
    Couch auszustrecken. Er legte sich nieder, faltete Arme und
    Beine übereinander, schloß die Augen und lauschte der Musik
    einer Platte, die er selbst mitgebracht hatte. Jeder Ton der
    Musik schien ihm von einer Reinheit und Eindringlichkeit, wie
    er es noch nie zuvor wahrgenommen habe.
    Als er die Augen öffnete, war er überwältigt von der Schönheit
    und dem Detailreichtum der Gegenstände im Raum, die ihm
    ebenfalls ganz neu erschienen. Dann sah er sich die Fotos in
    dem Band Family of Man an, der neben seiner Couch lag; er
    gewann dabei tiefe Einsicht in die Bedeutung des Dargestellten
    wie auch in seine eigenen Einstellungen dazu. Dann verlangte
    es ihn, sich erneut hinzulegen, und als er die Augen schloß,
    verfiel er in einen Wachtraum: Er sah seinen Vater Gesichter
    schneiden, wie im Spiel, und heiter dabei lächeln. Sein Kommentar: So müsse ihm sein Vater erschienen sein, als er ein kleiner Junge war. Dann aber änderte sich der Ausdruck seines
    Vaters: Sein Gesicht war plötzlich von Wut verzerrt. Jetzt erschien eine nackte Frau mit runden Hüften, die ihr Gesicht mit ihren Armen verbarg, und dann fiel sein Vater, ebenfalls nackt,
    182

    über sie her, um in sie einzudringen. Er spürte, wie die Frau, die
    er nun als seine Mutter identifizierte, ihre Wut unterdrückte.
    Diese Sequenz wählte ich als Ausgangspunkt und forderte den
    Analysanden auf, die beiden miteinander sprechen zu lassen.
    Dies ist ein Mittel, um dem Patienten den latenten Inhalt der
    Bilder bewußt zu machen. »Was sagt sie?« - »Geh weg!« -
    »Was empfindet er?« Das konnte der Analysand nicht imagi-
    nieren. »Wahrscheinlich ist er verblüfft«, meinte er. Dies war
    der rechte Augenblick, einen weiteren Schritt in der gleichen
    Richtung zu tun, das heißt, er sollte nun dieses Traumbild zur
    Entfaltung bringen und seine komprimierte Bedeutung in den
    Bereich des Fühlens und des Handelns übertragen. »Seien Sie
    jetzt Ihr Vater«, sagte ich. »Verwandeln Sie sich mit all Ihrem
    schauspielerischen Vermögen in Ihren Vater und lauschen Sie,
    was Ihre Mutter zu ihm gesagt hat.« Jetzt fühlte er sich imstande, seinen Vater zu personifizieren: Er war nicht »verblüfft«, sondern empfand tiefen Kummer und Zorn über ihre Zurückweisung. Am Tage darauf schrieb er nieder:
    »Ich sehe meine Mutter als hart, ohne jede Zuneigung und
    voller Ängste, und ich sehe in meinem Vater nicht mehr
    jenen gefühllosen Menschen, der ihr mit seinen Liebesaffären weh tut, sondern jenen Mann, der das Tor zu ihrer Liebe vergebens zu öffnen versuchte. Dennoch habe ich Mitleid mit
    meiner Mutter.«
    Es folgte nun ein seltsamer Wachtraum: Er selbst wird von
    einem Löwen beleckt, der sich in eine Löwin verwandelt, die
    ihm die Genitalien abbeißt und ihn als leblose Puppe zurückläßt. An diesem Punkt erhob er sich von der Couch, wanderte umher, ging in den Garten, wo alles für ihn aussah, »als hätte es
    zuvor nicht existiert«. Er kehrte ins Zimmer zurück, legte strawinskis Sacre du printemps auf, und schon bei den ersten Klängen verspürte er den Drang, sich im Rhythmus der Musik zu bewegen.
    Und so hat er die Drogenerfahrung später beschrieben:
    »Nach und nach ergab ich mich dem Rhythmus der Musik
    und begann, wie ein Besessener zu tanzen. Ich fühlte mich
    ausgeglichen, expressiv, und was das Wichtigste war, ich
    fühlte mich als ich selbst. Doch einmal blickte ich zufällig in
    den Spiegel und sah, daß meine Hände sich auf eine konventionelle, nicht von der Musik inspirierte Weise bewegten. Ich ärgerte mich darüber. Als die eine Seite der Platte zu Ende
    war, drehte ich sie um und tanzte weiter. Ich spürte keine
    183

    Müdigkeit, und die Bewegung machte mir große Freude.«
    Nun schlug ich ihm vor, einen Traum durchzuarbeiten, den ich
    hier allerdings nicht wiedergebe, obwohl er für den Analysanden insofern von Wichtigkeit war, als er sein Selbstwertgefühl stärkte. Nach diesem Traum betrachtete er die Familienfotos,
    die er mitgebracht hatte, was dazu beitrug, sein Verhältnis zu
    Vater und Mutter zu klären. Vier Stunden nach Auftreten der
    ersten Symptome merkte er, daß die Ibogain-Wirkung weitgehend abgeklungen war. Er unterhielt sich mit ein paar Freunden, die mal hereinschauten.

Weitere Kostenlose Bücher