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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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und hätte ich damals schon mehr Erfahrung gehabt, hätte
    ich den Abstieg des Patienten - den er ja schon vor sich sah -
    abgewartet und ihn sogar dazu ermutigt, sich in das Dunkel
    herabsinken zu lassen. Doch auch das Ende dieser Episode -
    der plötzliche aggressive Ausbruch zum Schluß - ist ein für die
    Ibogain-Erfahrung nahezu typischer Zug, den ich als ein Zeichen partiellen Durchbruchs werte. Solche Ausbrüche stehen in polarem Gegensatz zu jenem Gefühl des Eingeschlossenseins, das sich im vorangegangenen Bild ausgedrückt hatte.
    Ähnliches habe ich auch in anderen Fällen vor dem Auftreten
    aggressiver Anwandlungen beobachtet: entweder in rein bildlicher Form oder aber als Gefühl schwerer Hemmung und Unfreiheit oder als Apathie oder als rein körperliche Empfindungen des Eingeschlossenseins oder Gebremstwerdens. Ich sehe darin eine Wendung nach innen, eine Lähmung des aggressiven
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    Potentials der Persönlichkeit, das, in natura an einem Außenziel abreagiert, ein Gefühl der Erleichterung, Freiheit und Macht gewährt hätte. In unserem Fall ist der Patient alles
    andere als erleichtert, sein Schuldgefühl wegen des Messerstechens war im Grunde ein Zurückweichen. Er vermochte der Präsenz des Weiblichen in seiner Innenwelt noch immer nicht
    unbefangen entgegenzutreten.
    Man mag sich fragen, welche Bedeutung eine solche a-perso-
    nale Erfahrung für die Therapie haben könnte, und in welcher
    Form sie sich auf das Verhalten der betreffenden Person im
    täglichen Leben auswirken wird. Für den Analysanden gab es
    keinen Zweifel:
    »Auch weiterhin konnte ich im täglichen Leben feststellen:
    Was ich auch sagen mochte, stets hatte es Transzendenz,
    simple und echte Realität, die es sogar heute noch für mich
    hat und auch morgen noch haben wird. Ich reagierte auf die
    Dinge anders als sonst, mehr . . . emotional? Nein, rein
    sensitiv. Ich äußerte mich nicht mehr so vage, sondern präzise, und traf weise Entscheidungen.«
    Diese erste Resonanz nach der Sitzung darf als Übertragung
    archetypischer Wahrnehmungsweise ins tägliche Leben verstanden werden - nicht als Halluzinieren im buchstäblichen Sinn, sondern als Umkehrung dieses Prozesses: Alltägliche
    Worte und Handlungen erhalten eine universalere Bedeutung.
    Selbst nach fünf Monaten hatte der Analysand noch deutlich
    das Empfinden, als urteile er nicht nur in ästhetischen, sondern
    auch
    in
    alltäglicheren
    und
    persönlichen
    Angelegenheiten
    »ganzheitlicher« als zuvor.
    Darüber hinaus hatte sich die Sitzung auch auf seine Gemütsverfassung ausgewirkt, die er als »spirituell gelassen« registrierte. Sonst hatte er sich stets zeitlich bedrängt gefühlt und war ängstlich auf richtige Einteilung seiner Zeit und Mühe
    bedacht gewesen; jetzt ist von einem »Gefühl tiefen Friedens«
    die Rede »angesichts der Gewißheit, daß die ganze Welt, deren
    Teil aber auch Beobachter ich bin, experientiell in mir ist und
    nicht etwas räumlich Getrenntes oder Rätselhaftes«.
    Im Gefolge seiner vertieften Introspektion, die sich in vermehrter Empathie auswirkte, änderten sich auch seine Umweltbeziehungen. Vier Monate nach der Sitzung heißt es bei ihm:
    »Ich sah, daß ich aus vielen Teilen bestand, und zu jedem
    gehörte ein kleines Ganzes. Und ich sah, daß es bei den
    anderen ebenso war. In jenen Tagen war mein Kontakt zu
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    anderen Menschen dermaßen intensiv! In der Einstellung
    anderer zu dem, was sie interessierte, erkannte ich die eigene
    wieder. Ich identifizierte mich nicht restlos mit ihr, doch ich
    verstand sie von meinem Innern her.«
    Ich habe nicht erlebt, daß eine Erfahrung archetypischen Inhalts notwendigerweise gerade diese Konsequenzen nach sich ziehen muß. Sowohl Ibogain als auch Harmalin können my-thenhafte, traumartige Sequenzen auslösen, die mit geringer
    emotioneller
    Beteiligung
    kontempliert
    werden,
    und
    dabei
    kommt nicht viel mehr heraus, als hätte man dem Patienten den
    Inhalt als Film vorgeführt. Indes unterschied sich die eben
    beschriebene Erfahrung von einer passiven Filmrezeption insofern, als der Analysand an den verschiedenen Szenen lebhaften Anteil nahm. Er nahm das Licht wahr, er war es, der sich in
    Tiere oder Apparaturen verwandelte, und während ersieh auf
    den runden Deckel setzte und ihn zu öffnen versuchte, preßte er
    auch in Wirklichkeit seine Hände auf den Boden. Er erfuhr sich
    nicht nur als Agierender, sondern auch als Reagierender.
    Wie der Genuß eines Kunstwerks nicht nur auf

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