Die Reise Zur Stadt Der Toten
ihr es bekommen.«
»Wir können nicht lange bleiben«, erwiderte Etienne, bemüht, die strahlende Miene seiner Frau zu ignorieren. Sie befand sich im xeno-soziologischen Himmelreich. »Wir haben unser Boot unten auf dem Skar gelassen und müssen bald dorthin zurückkehren.«
»Laß das jetzt! Tyl, wir wollen alles sehen, was wir können. Es stimmt, daß wir nur wenig Zeit haben; aber ich möchte so viel wie möglich über Euer Volk und seine Sitten lernen, seine Art zu leben. Das ist mein Beruf.«
»Lobenswertes Gelehrtentum«, sagte Tyl. Er hatte eine unerwartet tiefe Stimme, die voll unter seiner biegsamen Schnauze hervordrang. »Wenn eure Zeit beschränkt ist, müßt ihr scharf beobachten und gut zuhören. Morgen werde ich euch, wenn es sich arrangieren läßt, zu den Tempeln von Moraung Motau führen.«
»Vielleicht würden wir gern vorher etwas anderes sehen.«
»Etienne! Sei nicht unhöflich! Du hast schon zu lange unter Mai gelebt. Ich schwöre, du fängst an, dich wie ein Händler vom Fluß zu benehmen.«
Er war zu müde, um sich mit ihr auseinanderzusetzen, und wandte sich daher nur ab und untersuchte die Wand, während sie fortfuhr, sich mit Tyl zu unterhalten.
»Wenn ihr es vorzieht«, sagte ihr Gastgeber, »es ist noch etwas Zeit übrig. Wir könnten jetzt beginnen.«
»Um keinen Preis.« Etienne strebte auf eine gepolsterte Bank zu, die offenbar dazu bestimmt war, als Couch oder Bett oder beides zu dienen. »Ich bin völlig ausgepumpt.«
»Nun, ich nicht«, brauste Lyra auf. »Ihr könnt mich herumführen, wenn Ihr das wünscht, Tyl.«
»Meine größte Ehre.«
Etienne überlegte eine passend sarkastische Antwort darauf, fand es aber dann schwer, einen Grund zu finden, den höflichen Tsla zu beleidigen. So sagte er nichts, als die beiden gingen. Der Klang der Glöckchen war wie ein Beruhigungsmittel und das Couchbett überraschend bequem; und so war er eingeschlafen, ehe ihm das richtig bewußt wurde.
Das Licht einer Kerze, die auf einem hohen Regal in einer Glasschüssel stand, weckte ihn. Ohne Zweifel hatte irgendein gewissenhafter Bediensteter sie vorsichtig entzündet, während er schlief.
»Wach auf, hab’ ich gesagt!«
Er rollte sich zur Seite und bemerkte, daß er in das erregte Gesicht seiner Frau starrte. Er rieb sich müde die schweren Augen. »Was ist denn?«
»Etienne, Tyl hat mich im Fackellicht durch die halbe Stadt geführt. Das Regierungssystem, das diese Leute hier entwickelt haben, ist für vernunftbegabte Wesen dieser technologischen Klassifikation einmalig. Diese Tsla sind ein technologisches Wunder. Hast du gewußt, daß die spirituellen Verwalter - und das sind keine Priester, eher so etwas wie primitive Psychoanalytiker - tatsächlich die Hälfte der Regierungssitze innehaben?«
»Das ist interessant.« Er wollte sich wieder zur Seite drehen, aber ihre Hand hielt ihn fest. So sah er sie etwas gereizt über die Schulter an.
»Etienne, hör mir zu! Diese Sozialstruktur ist einmalig. Das hier ist eine Prä-Dampfmaschinen-Zivilisation, und doch sind die Leute gesellschaftlich so weit fortgeschritten, daß sie mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit auf etwas so Kompliziertes wie geistiges Wohlbefinden achten. Sie definieren es natürlich nicht ganz so, aber es läuft auf dasselbe hinaus. Möglicherweise ist das die stabilste primitive fremde Gesellschaft, die wir je entdeckt haben, und sie tun das, ohne sich irgendwelche unangemessenen Illusionen über sich selbst zu machen.
Kein Wunder, daß die Mai sie fürchten und argwöhnisch beobachten! Die Tsla sind soviel besser ausgeglichen als sie. Die Tsla haben früher gelernt, mit ihrer Psyche ins reine zu kommen, als die meisten Leute das auch nur mit ihrem Körperzustand geschafft haben. Selbst Martinsons Arbeit über Alaspin ist ein Beweis dafür. Diese Entdeckung, Etienne - sie allein ist all die Mühe dieser Expedition wert!« Sie stand auf und begann erregt im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Die Tsla sind etwas ganz Spezielles, etwas Einmaliges. Das hier ist mehr als eine Chip-Monographie - das ist ein ganzer Band!«
»Das freut mich für dich.« Er gähnte. »Aber vergiß nicht, daß wir noch einen halben Fluß zu erforschen haben.«
Sie setzte an, etwas darauf zu sagen, überlegte es sich dann aber anders. »Du bist erschöpft, Etienne. Wir werden morgen darüber sprechen.«
»Du solltest auch erschöpft sein.«
»Ich weiß. Aber ich kann meine Begeisterung einfach nicht zurückdrängen. Ich bin mit Adrenalin
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