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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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Begleiter, findest ganz allein ans Ziel, ohne jede Mühe.«
»Bis zur Tönernen Lichtung komm’ ich schon«, stimmte Candide zu, »doch wie weiter?«
»Wohin denn noch?«
»Durch den Sumpf, wo früher die Seen waren. Erinnerst du dich, du hattest mir etwas von einem steinigen Weg erzählt.«
»Keine Ahnung, was für einen Weg du meinst. Den zur Tönernen Lichtung? Aber ich versuch’ dir doch die ganze Zeit klarzumachen, daß du links abbiegen mußt, bis zum Feld gehn, an den zwei Steinen vorbei…«
Candide ließ ihn ausreden und sagte: »Den Weg zur Tönernen Lichtung kenne ich jetzt. Den finde ich. Aber ich muß noch weiter, das weißt du doch. Ich muß unbedingt in die Stadt, und du wolltest mir den Weg dorthin zeigen.«
Hinkebein schüttelte teilnahmslos den Kopf.
»In die Staaadt will er also! – Ja doch, ich weiß… Aber bis zur Stadt kommst du nicht, Schweiger. Zur Tönernen Lichtung ja, da ist’s einfach: an den zwei Steinen vorbei, durch das Pilzdorf, dann durch das der Sonderlinge, und schon hast du rechter Hand die Tönerne Lichtung. Oder, sagen wir, zum Dickicht. Halt dich von hier aus rechts, geh durch den lichten Wald, am Brotsumpf vorbei und dann immer der Sonne nach. Wie die Sonne, genauso du. Drei Tage Weg sind’s, drei Tage. Aber wenn dir so viel dran liegt – gehen wir eben zusammen. Wir haben früher unsre Töpfe von dort geholt, wenigstens solange wir hier noch keine pflanzten. Das Dickicht kenne ich gut, du hättest gleich sagen sollen, daß du ins Dickicht willst. Was sollen wir da erst bis übermorgen warten, schon morgen früh brechen wir auf, wir brauchen nicht einmal Proviant mitzunehmen, wenn wir doch am Brotsumpf vorbeikommen… Du redest immer so furchtbar wenig, Schweiger. Kaum fangt man an, dir zuzuhören, hast du den Mund schon wieder zugemacht. Aber ins Dickicht gehn wir. Gleich morgen früh brechen wir auf…«
Candide hörte ihn bis zu Ende an, dann sagte er: »Ich muß aber gar nicht ins Dickicht, Hinkebein. Ins Dickicht muß ich nicht.«
Hinkebein hörte aufmerksam zu und nickte. »Ich muß in die Stadt«, fuhr Candide fort. »Wir beide haben schon oft darüber gesprochen. Gestern hab’ ich dir gesagt, daß ich in die Stadt muß. Vorgestern hab’ ich dir gesagt, daß ich in die Stadt muß. Vor einer Woche hab’ ich dir gesagt, daß ich in die Stadt muß. Du hast mir versichert, daß du den Weg in die Stadt kennst. Das hast du gestern gesagt. Auch vorgestern hast du gesagt, daß du den Weg in die Stadt kennst. Nicht zum Dickicht, sondern in die Stadt. Ich muß nicht zum Dickicht.« Bloß nicht durcheinanderkommen, dachte er. Oder bin ich’s vielleicht schon? Nicht das Dickicht, sondern die Stadt.
»Die Stadt und nicht das Dickicht«, wiederholte er laut. »Hast du verstanden? Erzähl mir was über den Weg in die Stadt. Nicht zum Dickicht, sondern in die Stadt. Noch besser wär’s, wir würden gemeinsam in die Stadt aufbrechen. Würden gemeinsam nicht zum Dickicht gehn, sondern in die Stadt.«
Candide verstummte, Hinkebein strich sich erneut über das kranke Knie.
»Weißt du, Schweiger, wahrscheinlich haben sie dir, als sie dir den Kopf abtrennten, innen irgendwas kaputtgemacht. Das ist wie bei mir mit dem Bein. Erst war’s ein Bein wie jedes andere, ein ganz gewöhnliches Bein, dann aber ging ich eines Nachts durchs Ameisendorf, trug ein Ameisenweibchen, geriet mit diesem Bein in ein Loch, und seither ist es krumm. Warum es krumm wurde, weiß niemand – jedenfalls kann ich damit nicht mehr richtig laufen. Aber bis zum Ameisendorf schaff ich’s. Schaff es selber und führ’ auch dich hin. Ich begreif nur nicht, warum du es gesagt hast, daß ich Proviant mitnehmen soll, bis zum Ameisendorf ist’s doch nur ein Katzensprung.« Er sah Candide an, wurde verlegen und fügte noch hinzu: »Aber du mußt ja gar nicht zum Ameisendorf. Wo wolltest du gleich hin? Ach ja, zum Dickicht. Ich kann bloß nicht zum Dickicht, ich schaffs nicht. Siehst ja selbst, hab’ ein krummes Bein. Hör mal, Schweiger, warum sperrst du dich eigentlich so gegen das Ameisendorf? Laß uns zum Ameisendorf gehen, ja? Ich war seither kein einziges Mal dort, wer weiß, vielleicht gibt’s das Dorf gar nicht mehr. Wir suchen das Loch, einverstanden?«
Jetzt wird er’s gleich geschafft haben, mich durcheinanderzubringen, dachte Candide. Er beugte sich zur Seite und rollte einen Topf an sich heran.
»Einen schönen Topf hast du«, sagte er. »Kann mich gar nicht entsinnen, wo ich zum letztenmal so

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