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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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sich. »Also brechen wir übermorgen in die Stadt auf. Morgen geh’ ich zum Weiler ‘rüber, dann komm’ ich mal bei dir vorbei und erinnere dich daran.«
»Tu das«, sagte Hinkebein. »Ich würde ja selbst mal bei dir vorbeischaun, aber mein Bein tut weh – hab’ keine Kraft drin. Also komm ruhig vorbei. Wir schwatzen ein bißchen. Ich weiß, daß viele nicht gern mit dir reden, mit dir zu reden ist schwierig, Schweiger, aber ich gehör’ nicht zu ihnen. Ich hab’ mich dran gewöhnt, und es macht mir sogar Spaß. Schau also vorbei und bring Nawa mit, sie ist eine gute Frau, deine Nawa, wenn sie auch keine Kinder hat, aber die kommen noch, sie ist ja noch jung…«
Auf der Straße wischte sich Candide erneut den Schweiß ab. Doch er hatte es noch nicht überstanden. Neben ihm kicherte jemand, hüstelte. Candide drehte sich um. Aus dem Graus tauchte der Alte hoch, drohte mit dem knotigen Finger und sagte: »In die Stadt wollt ihr also. Gut ausgedacht, nur ist bisher noch niemand lebend dorthin gelangt. Das darf man nämlich nicht. Auch wenn du einen angenähten Kopf hast – das müßtest du begreifen…«
Candide bog rechts ab und ging die Straße entlang. Der Alte, der sich immer wieder im Gras verhedderte, trottete eine Weile hinter ihm her und murmelte: »Was nicht sein darf, darf eben nicht sein, so oder so… Zum Beispiel geht’s ohne Dorfältesten und ohne Versammlung nicht, mit Dorfältestem und Versammlung dagegen geht’s, freilich auch das nicht ohne weiteres…«
Candide schritt so schnell aus, wie das die drückende Schwüle zuließ, und endlich blieb der Alte zurück.
Auf dem Dorfanger erblickte Candide den Horcher. Der Horcher ging im Kreis, watschelnd und über seine krummen Beine stolpernd; aus einem riesigen Topf, den er vor dem Bauch hängen hatte, verspritzte er mit vollen Händen braunen Grastod. Das Gras hinter ihm qualmte und verkümmerte zusehends. Candide mußte am Horcher vorbei, doch als er das unbemerkt tun wollte, wechselte der Horcher so geschickt seine Bahn, daß er Candide Auge in Auge gegenüberstand.
»A-ach, du bist’s, Schweiger!« rief er erfreut aus, streifte hastig den Riemen ab und stellte den Topf auf den Boden. »Wo gehst du denn hin, Schweiger? Nach Hause, müßt’ man denken, zu Nawa, ist doch klar, bloß weißt du nicht, daß deine Nawa unterwegs ist, Schweiger, auf dem Feld ist deine Nawa, mit meinen eigenen Augen hab’ ich gesehen, wie sie aufs Feld ging, glaub es, wenn du willst, oder laß es bleiben… Kann natürlich auch sein, daß sie nicht auf dem Feld ist, deine Nawa, nur ist sie durch das Gäßchen dort gegangen, Schweiger, durch das Gäßchen aber gelangt man eben nur aufs Feld, wohin auch sollte sie sonst gehn, frag’ ich dich? Doch wohl nicht dir hinterher, Schweiger…«
Candide machte erneut Anstalten, an dem Horcher vorbeizukommen, stand ihm aber unerklärlicherweise wieder Auge in Auge gegenüber.
»Du brauchst ihr nicht erst aufs Feld zu folgen, Schweiger«, fuhr der Horcher bestimmt fort. »Wozu solltest du ihr folgen, da ich doch das Gras hier vernichte und gleich alle herbeirufe. Der Landvermesser war nämlich hier. Er hat gesagt, der Älteste hätte ihm befohlen, mir auszurichten, ich soll’ das Gras auf dem Anger vernichten, damit eine Versammlung stattfinden kann. Wenn aber die Versammlung stattfindet, kommen sie vom Feld alle hierher, auch deine Nawa wird kommen, wenn sie aufs Feld gegangen ist, denn wo sollte sie sonst durch das Gäßchen hin wollen, obwohl, wenn man’s recht bedenkt, so führt ja dieses Gäßchen nicht nur aufs Feld. Man kann auch…«
Er verstummte plötzlich und seufzte krampfhaft. Seine Augen wurden schmal, und die Hände fuhren wie von selbst empor, mit den Handflächen nach oben. Sein Gesicht verschwamm erst zu einem süßlichen Lächeln, dann zu einem schiefen Grinsen. Candide, der im Begriff war, seitlich auszuweichen, blieb lauschend stehen. Ein verschwommenes lilafarbenes Wölkchen verdichtete sich über dem kahlen Kopf des Horchers, seine Lippen begannen zu zittern, und er fing schnell und sehr deutlich mit einer fremden Stimme, die einem Ansager zu gehören schien, in fremdem Tonfall, mit fremden, wenig bäuerlichen Wendungen, ja fast in einer fremden Sprache zu reden an, so daß lediglich einzelne Satzfetzen zu verstehen waren: »In den fernen Randgebieten der Südlichen Ländereien treten immer neue… in die Schlacht ein… verschieben sich immer weiter nach Süden… siegreicher Vormarsch… Die Große

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