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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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Minute lang stand er mitten im Raum, hielt seine Frau auf den Armen und sah sie zärtlich und traurig zugleich an. Ohne sie zu küssen, wie sie es erwartete, legte er sie vorsichtig auf das Bett nieder. Dann setzte er sich wortlos auf den Stuhl, zog Notizblock und Füllhalter hervor und schickte sich an, etwas aufzuschreiben.
»Dor, was ist mit dir?« flüsterte Biolia flehend, erschreckt durch das unverständliche Schweigen des Mannes.
Statt einer Antwort reichte ihr Redshan den Notizblock. Biolia nahm ihn ungläubig entgegen und las folgende Zeilen: »Erschrick nicht, Biolia! Es ist alles in Ordnung! Ich bin reich geworden, ein wahrer Krösus; dafür habe ich meine Fähigkeit eingebüßt, zu sprechen und zu hören. Das geschah, damit ihr beide, du und Arkif, niemals mehr Not leiden müßt. Schreib mir auf, wie es dir und unserem Kleinen geht.«
Er reichte ihr den Füllhalter und forderte sie durch ein Zeichen zum Schreiben auf. Biolia aber stieß einen Schrei aus, ließ den Notizblock zu Boden fallen und stürzte zu ihrem Mann. Mit fiebernden Bewegungen betastete sie ihn, streichelte sein Gesicht und seine Hände, küßte ihn wie rasend und vergoß bittere Tränen. Bald spürte sie, daß seine Hände und sein Gesicht kalt wie Eis waren. In ihrem Herzen regte sich ein schrecklicher Verdacht. Mit einem Ruck riß sie seinen Mantel auf und legte ihr Ohr an seine Brust, dorthin, wo sein Herz schlagen mußte. Aber nichts regte sich dort, kein Atemzug, und das Herz schwieg, als ob es gar nicht da wäre.
»Du bist tot! Du bist ein Gespenst!« schrie Biolia, sie floh vor ihrem Mann und verkroch sich in die hinterste Ecke des Bettes. Ihre Augen wurden weit und füllten sich mit wildem, abergläubischem Entsetzen.
Der kleine Arkif wurde in seinem Bettchen wach und fing an, laut zu weinen. Biolia stürzte zu ihm, preßte ihn an ihre Brust und versteckte sich mit ihm wieder in ihrer Ecke. Sie betete laut und murmelte irgendwelche unzusammenhängenden Beschwörungen.
Redshan schaute sie bekümmert an. Eine Weile stand er unentschlossen da, seine Arme hingen hilflos herab. Er begriff den Grund ihres Entsetzens, war aber zunächst fassungslos, weil er nichts dergleichen erwartet hatte. Endlich hob er den Notizblock vom Boden auf, setzte sich wieder an den Tisch und schrieb eine lange Erklärung.
Unterdessen hatte sich Biolia etwas beruhigt. Das Gespenst ihres Mannes war, trotz allem zu materiell, seine Augen waren lebendig und voller Güte. Nein, Dor würde ihr nichts Böses antun! Dor liebte sie, liebte auch Arkif! Deshalb griff sie hastig nach dem dichtbeschriebenen Blatt, das Redshan ihr entgegenhielt; sie war überzeugt, nun endlich die ganze Wahrheit zu erfahren.
Und sie erfuhr alles.
Wieder gab es Tränen, wieder strich Biolia ihrem Mann über das Gesicht, und abermals küßte sie ihn. Dann brachte sie ihm seinen Sohn. Der Junge erkannte den Vater und streckte ihm die Ärmchen entgegen, aber Redshan wagte nicht, ihn zu streicheln; er fürchtete, den Jungen durch die eisige Berührung zu erschrecken.
Schließlich nahm Biolia den Bleistift und schrieb: »Ich brauche nichts, Liebster! Wir wollen betteln und darben, wenn du nur wieder so wirst wie früher! Überlaß alles deinem Professor, wenn er dich nur wieder so macht wie früher und dir dein früheres Leben zurückgibt!«
Redshan schüttelte traurig den Kopf und antwortete: »Biolia, das ist unmöglich! Als ich in die Operation einwilligte, dachte ich nur an dich und unseren Jungen. Ich hoffte, euch aus diesem verfluchten Elend zu befreien. Jetzt ist es zu spät! Verzage nicht, ich liebe dich trotzdem, nur dich und niemanden sonst! Ich werde dich besuchen! Und später, wenn ich mit Valmosk abgerechnet habe, bleibe ich für immer bei euch!«
Er schrieb das alles aufrichtigen Herzens hin, ohne noch selbst zu begreifen, daß er nicht mehr Biolias Mann war, daß er sie nicht mehr lieben konnte. Ihr aber war das bereits klar, und sie weinte hemmungslos, als sei er wirklich schon gestorben. Für sie war er ein Gespenst geworden, kalt und unerreichbar. Davon hatte sie die Berührung seiner kalten Hände überzeugt, sein Grabesschweigen und seine steinerne Brust, die nicht mehr atmete und in der kein Herz mehr schlug.
12
    Man sprach wieder über das Haus des alten Valmosk. Mit der Ruine, die bereits auf der Abbruchliste stand, war ganz unerwartet eine Verwandlung vor sich gegangen.
    Den ganzen Winter über hatte man Baumaterialien auf den Hof gebracht und Gerüste aufgebaut. Im

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