Die Reliquie von Buchhorn
hing erstickend in der Luft, obwohl er die Tür aufgestoßen und die schweren Tücher von den Fenstern abgehängt hatte. Gerald sprang auf und setzte sich wieder.
»Eckhard wird nicht kommen.« Seine Stimme klang unangemessen laut in der verwüsteten Kate. Wieder sah er scheu zu dem stillen Körper hinüber. »Eckhard würde sich die Leiche ansehen, ganz sicher!«, murmelte er. »Aber wonach würde er suchen? – Egal!«
Wieder stand er auf und näherte sich vorsichtig dem Toten. Er streckte die Hand aus und riss mit einem Ruck das Leintuch zurück. Ein ekelerregender Gestank trieb ihn einen Schritt rückwärts. Gerald schlug die Hand vor Mund und Nase und beugte sich vor. Dietgers Gesicht war eingefallen, und obwohl seine Augen geschlossen waren, wurde er das Gefühl nicht los, der Tote starre ihn an.
Mit angehaltenem Atem schob er die Hand unter den Kopf der Leiche und drehte ihn vorsichtig. Reste von Blut klebten in den dünnen Haarsträhnen, als hätten sogar die Frauen, die den Leichnam gewaschen hatten, vermieden, der tödlichen Wunde zu nahe zu kommen.
»Ich sehe mit Freude, dass du mir nacheiferst. Und welche Schlüsse ziehst du jetzt?«
Gerald stieß einen Schrei aus und sprang zurück. Der Kopf des Toten entglitt ihm und prallte dumpf auf das Bett. »Bei allen Heiligen … Eckhard? Bist du das wirklich?«
Eckhard brachte sein Schmunzeln rasch unter Kontrolle. »In voller Lebensgröße. Deine Frau hat mir gesagt, dass ich dich hier finde.« Er breitete die Arme aus und umarmte den hünenhaften Schmied kurz. Als sie sich voneinander lösten, sagte er: »Dann mache ich jetzt weiter. Einverstanden?«
»Liebend gern!«
Eckhard sprach ein kurzes Gebet über dem Toten, ehe er das Leichentuch vollständig zurückschlug. Erneut stieg der Geruch nach Verwesung auf, doch Eckhard kümmerte sich nicht darum. Er streifte das dünne Hemd hoch, mit dem Dietger bekleidet war. Im letzten Sonnenlicht erkannte er gerade noch die Blutergüsse, die Brust und Bauch des Toten verunstalteten.
»Hilf mir, ihn auf die Seite zu drehen«, befahl er kurz.
Gerald rümpfte die Nase und gehorchte.
»Am Rücken auch. Und die Wunde am Hinterkopf. Du kannst ihn wieder loslassen.« Eckhard ging auf der anderen Seite in die Hocke. »Und hier ist noch eine Verletzung, an der Schläfe. Eine der beiden Kopfwunden muss letztendlich zum Tod geführt haben.«
»Kannst du sagen, welche?«, fragte Gerald aus sicherer Entfernung.
Eckhard schüttelte den Kopf. »Jedenfalls ist mit einem stumpfen Gegenstand auf ihn eingeschlagen worden. Wieder und wieder.«
»Folter?«, fragte Gerald rau und sah sich um. Plötzlich gewannen die zerschlagenen Töpfe und Krüge eine neue, düstere Bedeutung. »Der Mörder hat etwas gesucht?«
»Oder es war blanker Hass. Man kann auch auf eine Leiche einschlagen«, versetzte Eckhard trocken und verhüllt erneut das Gesicht des Toten. »Ich habe genug gesehen. Seiner Bestattung steht nichts mehr im Weg. Er ist ein Opfer, und es wird genug Menschen geben, die seine gottesfürchtige Lebensart bezeugen. Möge der Herr deiner Seele gnädig sein, Dietger.«
Auch Gerald bekreuzigte sich. »Hast du schon einen Verdacht?«
Eckhard schob die Hände in die Ärmel seiner Kutte. »Es gibt verschiedene Möglichkeiten«, sagte er vorsichtig. »Und keine davon gefällt mir besonders. Was ist eigentlich mit den Bienen? Kümmert sich jemand um die?«
Gerald hob die Schultern. »Davon versteht keiner was.«
Die verschiedensten Gedanken schwirrten Eckhard im Kopf herum: Geralds unglückliche Miene, als er ihn bei der Leiche zurückgelassen hatte, Dietgers mahnendes Totengesicht, die Worte seines Abtes und nicht zuletzt Rodericus’ strenge Frömmigkeit. Fächerförmige Abendsonnenstrahlen ließen ihn blinzeln. »Zeit für die Vesper«, seufzte er und ließ den Kopf hängen. Die rasch sinkende Sonne leuchtete in die Gasse und zwischen den Hütten, sein langer, verzerrter Schatten tanzte unruhig. »Rodericus wird allein beten müssen. Der Abt wird mich strafen. Und ich … ich sündige mit jedem Atemzug.«
Er folgte dem Weg, der sich von der winzigen Hafenbucht durch den Ort schlängelte, und wurde erst langsamer, als er das gedämpfte Stimmengewirr aus Hannes’ Schenke vernahm. Einzelne Wortfetzen verrieten dem Mönch, dass die Gemüter sich nicht beruhigt hatten, im Gegenteil. Er drückte die Tür auf und betrat die Schenke. Sekundenlang stand er reglos da, die untergehende Sonne wie einen düsterroten Kranz im
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