Die Reliquie von Buchhorn
es nicht.
Er starrte schon wieder aus dem Fenster. »Ich werde mit Eberhard sprechen. Dir geht es doch gut? Soll ich dir Gunhild rufen?«
Wendelgard schüttelte den Kopf. »Nein, mir geht es gut«, bestätigte sie mit leiser Stimme. Zwischen ihren Augen entstand eine feine Falte, als sie ihrem Mann nachsah.
Es war ein ungewohnt prächtiger Zug, der um die Mittagszeit in Buchhorn einritt. Die Zäume der Pferde glänzten, ebenso die Wämser der Reiter. Udalrich thronte auf seinem Rappen, und an diesem Tag ließ seine Erscheinung keinen Zweifel daran, wer der Herr war. Die Straßen des Dorfes waren verlassen, als er seine Männer durch die engen schlammigen Gassen führte. Nur Frauen und Kinder standen neugierig in den Türen der Häuser, die Männer hatten sich auf Udalrichs Geheiß auf dem Kirchplatz versammelt.
Als sie den freien Platz vor der Leutkirche fast erreicht hatten, löste sich Eberhard aus der Schar.
»Der Graf von Buchhorn«, verkündete er mit schallender Stimme.
Totenstille senkte sich über den Dorfplatz. Endlich trat der Pfaffe vor. Mit der einen Hand schirmte er die Augen gegen die Frühlingssonne ab, mit der anderen hielt er seine flatternde Robe fest. Mit einer tiefen Verneigung deutete er auf einen Hocker, dem jemand mit einem sauberen Leinentuch einen Anstrich von Festlichkeit zu geben versucht hatte. Seine Stimme klang wie ein bescheideneres Echo von Eberhards tragendem Bariton. »Wir erwarten sein Gericht!«
Eberhard hob die Hand, worauf sich der Zug des Grafen wieder in Bewegung setzte. Die Dorfbewohner starrten mit ehrfürchtiger Scheu zu ihrem Herrn auf, der in der glänzenden Mittagssonne, eine Hand am Zügel, die andere in die Hüfte gestemmt, dem Pfaffen zunickte. Dann schwang er sich mit großer Geste vom Rücken seines Schlachtrosses. Niemand sah den Schmerz in seinem Gesicht, als sein Fuß hart auf dem Boden aufkam. Seine Männer flankierten ihn, während er Platz nahm.
Der Pfaffe lächelte scheu, dann machte er ein Zeichen in Richtung der Menge, worauf eine einzelne Gestalt heraustrat. Überraschung vertrieb die Strenge aus dem Antlitz des Grafen, als er Fridrun erkannte, die ihm mit einer tiefen Verneigung einen Becher reichte.
Udalrich nahm und leerte ihn. »Ich danke dir, Fridrun.« Obwohl er die Stimme nicht hob, war jedes seiner Worte bis in den hintersten Winkel zu verstehen. Er gab ihr das Gefäß zurück. »Und nun geh. Dies ist kein Platz für Frauen!«
Fridrun verbeugte sich erneut und verließ mit raschen Schritten den Platz. Es war, als sei mit ihrer hellen Gestalt auch die schwache Hoffnung auf Gnade aus der Versammlung gewichen.
Udalrich stützte die Hände auf die Oberschenkel. »Ihr wisst, dass ich gekommen bin, um Gericht zu halten. Heute Morgen wurde mein Knecht Bertold zerschunden und verletzt zu mir gebracht. Für seine Wunden werdet ihr Buße leisten. Fünf ausgeschlagene Zähne«, zählte er mit ruhiger Stimme auf, »gebrochene Rippen, ein angebrochenes Jochbein, ein verletztes Auge und die Schmach, nackt durch das Dorf getrieben worden zu sein. Hinzu kommt die Arbeit, die er mir nicht leisten kann, während er auf dem Krankenbett liegt. Diese Summe wird mir das Dorf als Wiedergutmachung leisten. Wer die einzelnen Schläge geführt hat, mögt ihr unter euch ausmachen. Ich erwarte die volle Summe dafür zusätzlich zu den nächsten Abgaben.« Der Graf wartete, bis sich das unterdrückte Gemurmel gelegt hatte. Aus den Stimmen war nicht zu erkennen, ob das vorherrschende Gefühl Erleichterung oder Erschrecken war. Erst als Udalrich sich erhob, senkte sich wieder Stille über den Platz. Ein Windstoß fuhr durch die Baumkronen. »Doch auch euch soll Gerechtigkeit zuteilwerden. Der Mord an dem Imker Dietger ist immer noch ungesühnt. Seine Mörderin, die Witwe Isentrud, wird zur Rechenschaft gezogen, sobald meine Frau niedergekommen ist.« Diesmal hielt auch die Ehrfurcht vor dem Grafen die Buchhorner nicht zurück. Laute Stimmen mischten sich ineinander. Schließlich hob Udalrich die Hand, doch er musste einige Zeit warten, bis es still wurde. »Dies ist mein Urteil. Erkennt ihr es an?«
Der Pfaffe trat vor und verbeugte sich. »Wir erkennen es an und danken Euch für Eure Gnade, Herr.«
Anna stützte Wendelgard, als diese mühsam die enge Treppe hinunterstieg. »Lasst mich Isentrud doch herholen, Herrin«, flehte sie mit einem Blick in das schweißnasse Gesicht der Gräfin.
Wendelgard unterdrückte einen Aufschrei.
»Herrin«, jammerte Anna.
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