Die Reliquie von Buchhorn
Ihr Gesicht war mittlerweile so nass wie das Wendelgards.
Die Gräfin stützte sich an der Wand ab, während sie wieder zu Atem kam. »Gehen wir«, sagte sie gepresst. »Und sorg dafür, dass deine Mutter uns nicht bemerkt.« Sie lächelte verzerrt. »Auf eine Standpauke meiner Köchin kann ich verzichten.«
Anna versuchte, ein Kichern zu unterdrücken. »Ja, Herrin. Es ist auch nicht mehr weit.«
Wendelgard hielt ihre Stirn in den kühlen Luftzug, der immer wieder in den Winkeln des Anwesens wehte, und folgte der Magd, als sie die Tür zu einer muffigen kleinen Kammer aufstieß. »Hier, Herrin«, flüsterte sie. »Braucht Ihr mich noch?«
»Nein, geh zu deiner Mutter, ja?«
Anna zwinkerte verschwörerisch und lief in Richtung der Küchendünste davon, die schwer zwischen den Wänden hingen.
»Ihr wolltet mich sprechen, Herrin?« Isentruds dunkle Stimme klang vom Fenster her.
Wendelgard hörte Leinen rascheln, als die Frau sich verneigte. Das Gesicht der Witwe war im Gegenlicht nicht zu erkennen, aber angesichts des kühlen Tonfalls presste Wendelgard die Lippen zusammen. Sie stellte sich in die Mitte der Kammer und sah sich um. Zwei Betten mit Strohsäcken standen an den Längsseiten, dazwischen ein Hocker und eine schlichte Truhe. Durch die Ritzen zwischen den Brettern pfiff der kalte Wind. Wendelgard glättete ihren Schleier und stemmte die rechte Hand ins Kreuz. Isentrud wartete reglos. Erst beim Anblick von Wendelgards Bauch wurden ihre Züge weicher. »Wollt Ihr Euch nicht setzen, Herrin?«
Wortlos ließ sich die Gräfin auf einem der harten Strohsäcke nieder und faltete die Hände über dem Leib. Die beiden Frauen musterten sich schweigend.
Unerwartet zog Wendelgard die Ledertasche hervor und hielt sie Isentrud hin. »Was ist das?«
Isentrud beugte sich über die weiche Hand der Gräfin und musterte die Tasche. »Das weiß ich nicht, Herrin«, antwortete sie schließlich.
Die Falte über Wendelgards Nase vertiefte sich. »Du lügst. Diese Tasche wurde im Haus deines Mannes gefunden.«
»Dann hat sie ihm gehört. Mit mir hat er nicht darüber gesprochen.«
Wendelgard hörte die Bitterkeit in der Stimme der Frau und zog die Hand zurück. »Schwörst du?«
Schweigend hob Isentrud die Hand.
Wendelgard massierte eine Weile stumm ihre Schläfen, plötzlich befahl sie: »Setz dich mir gegenüber!« Als die Frau gehorcht hatte, fuhr die Gräfin mit sanfterer Stimme fort: »Ich will offen mit dir reden. Du bist hier, weil Fridrun für dich gebeten hat. Aber ich weiß nicht, wie lange ich dich noch schützen kann. In Buchhorn ist es zu einem Übergriff auf einen Knecht meines Gemahls gekommen.« Sie wartete, aber Isentrud regte sich nicht. »Wenn du verurteilt wirst, kannst du dich nicht freikaufen, weil du keinen eigenen Besitz hast. Nicht wahr?«
Isentrud neigte den Kopf.
»Schwörst du, deinen Mann nicht getötet zu haben?«
Wieder wollte Isentrud die Rechte heben, aber Wendelgard sagte rasch: »Beim Leben deines Kindes?«
»Ja, Herrin.« Isentruds Hand zitterte nicht. Langsam zog sie die Reliquie aus dem Ausschnitt und drückte sie an die Lippen. »Dies war Dietgers letztes Geschenk. Er wollte, dass ich schwanger werde, und die Heiligen haben es gefügt. Ich bin eine Sünderin, aber ich bin keine Mörderin.«
Wendelgard fühlte die Tritte in ihrem Bauch und beugte sich leicht vor. »Ich glaube dir«, keuchte sie. »Und ich bete, dass ich auch meinen Mann davon überzeugen kann. Ich …, ich …« Die engen Wände der Kammer begannen sich zu drehen. Als der Schwindel verflog, lag sie auf dem Rücken und blickte in Isentruds ruhiges Gesicht.
»Gleichmäßig atmen, Herrin!«, befahl die Witwe. Sie legte die flache Hand auf den Leib der Gräfin, und ihre Finger versteiften sich.
»Was? Was ist mit meinem Kind?« Wendelgard versuchte, sich aufzurichten, aber Isentrud drückte sie sanft zurück.
Sie kniete nieder und streichelte die Wölbung, unter der das Kind strampelte. »Es ist noch nicht so weit, Herrin. Das sind keine Wehen, aber wenn ich mich nicht sehr irre, liegt das Kind nicht richtig.«
»Ich bringe nicht zum ersten Mal ein Kind auf die Welt!«, sagte Wendelgard mit einem blassen Lächeln. Die kreisenden Berührungen taten ihr gut. Sie stöhnte leise.
Isentrud rang sich ein Lächeln ab. »Es wird keine leichte Geburt wie die anderen, Herrin.«
»Das weiß ich schon lange!« Wendelgard richtete sich mühsam auf einen Ellenbogen auf. »Du verstehst etwas davon, nicht wahr, Isentrud.«
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