Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
das Poltern der Steine gehört und sie schon entdeckt. Wie ein Körper bewegten sie sich im Gleichschritt, bis zum Waldsaum waren es vielleicht dreihundert Fuß.
Plötzlich schrie ein Mann vor Karl auf. Er fiel, sofort nahm ein anderer seine Stelle ein. Karl fragte sich, wie es sich anfühlen würde, wenn ein Pfeil seine Brust durchbohrte, ob es lange dauern würde, bis er starb.
Pfeile sirrten nun durch die Luft, doch sie trafen nicht. Die Schützen hatten anscheinend Mühe, ihre Ziele im morgendlichen Dämmerlicht ins Visier zu nehmen. Wieder schrie ein Mann auf, und noch einer, die Formation geriet aus dem Takt, Karl verlor das Gleichgewicht, taumelte, versuchte sich aufzurappeln, vergeblich. Rückwärts schlug er auf den Boden, Lichter explodierten vor seinen Augen.
Das Letzte, was er hörte, war der Ruf: »Feuer einstellen!«
Sie wollten ihn offenbar lebend. »Herr, sei meiner Seele gnädig«, murmelte er, dann umfing ihn Dunkelheit.
D IE H ÜTERIN DER C HRISTENHEIT
D EZEMBER 1349/T EVET 5110
Es dunkelte bereits wieder, und mit der Dunkelheit kehrten die Erschöpfung und die Angst zurück, die sich bei Tageslicht so gut vergessen ließen. Rebekka saß ab. Sie musste schleunigst einen Rastplatz finden, doch nirgends war ein Unterschlupf in Sicht.
Die Nacht zuvor hatte sie in einer Höhle verbracht, deren Lage sie von der Karte kannte. Doch hier in der Gegend gab es nichts, nicht einmal eine verlassene Köhlerhütte. Rebekka sah sich um. Nichts als Bäume und Unterholz, dazwischen der schmale Pfad, dem sie seit Stunden folgte. Eigentlich hatte sie heute weiter kommen wollen, doch sie war zu entkräftet gewesen, um schneller als im Schritt zu reiten. Als sie aus der Gefangenschaft Vojtechs geflohen war, hatte sie vergessen, Proviant aus den Satteltaschen des Packpferdes mitzunehmen. Seit gestern Morgen hatte sie nichts anderes zu sich genommen, als Wasser und eine Handvoll halb vermoderter Pilze, die sie vage an Steinköpfe erinnerten, die einzigen Pilze, von denen sie wusste, dass sie roh genießbar waren.
Ihr Magen knurrte. Doch schlimmer als der Hunger war die Kälte, die von jedem Winkel ihres Körpers Besitz ergriffen zu haben schien. Rebekka glitt aus dem Sattel. Es war inzwischen so dunkel, dass sie den Pfad kaum noch erkennen konnte.
Sie führte Vila einige Schritte ins Unterholz und hielt nach einem Platz Ausschau, wo sie die Nacht einigermaßen trocken überstehen würde. Nach einer Weile fand sie eine kleine moosbewachsene Mulde und ließ sich nieder. Vila blieb dicht bei ihr stehen.
Rebekka hüllte sich in ihren Mantel und schloss die Augen. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Vor Kälte klapperten ihr die Zähne. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Wenn sie jetzt einschlief, würde sie nicht wieder aufwachen. Entsetzt fuhr sie hoch. Sie wollte nicht sterben, nicht hier und nicht jetzt. Nicht, bevor sie herausgefunden hatte, was es mit ihrer Herkunft auf sich hatte. Sie musste nach Prag, Tassilo Severin würde sie mit offenen Armen aufnehmen. In Prag würde sie sich Geld besorgen und alles in Erfahrung bringen, was es über die Familie Belcredi zu wissen gab.
Doch bevor sie daran denken konnte, musste sie diese Nacht überleben. Nur wie?
In dem Augenblick schnaubte Vila leise und stieß Rebekka sanft mit dem Maul an. Die Stute schüttelte sich, knickte erst mit den Vorderläufen ein und ließ sich langsam auf dem Boden nieder. Ungläubig starrte Rebekka das Tier an. Dann schossen ihr die Tränen in die Augen. »Ach, Vila«, murmelte sie. »Was würde ich nur ohne dich machen?«
Rebekka kroch ganz dicht an die Stute heran, presste ihr Gesicht an deren Flanke, bis sie spürte, wie Vilas Wärme langsam in ihren Körper kroch und die Kälte vertrieb. Wenig später schlief sie ein.
***
Rupert Fulbach triumphierte. Bereits einen Tag, nachdem er die frohe Botschaft in die Welt gesetzt hatte, war sie in Prag angekommen. Gerade eben hatte ihm einer seiner Spione gemeldet, dass es bei Hofe hieß, der König sei erkrankt und nicht zu sprechen, für niemanden. Lange würden Karls Getreue diese Lüge nicht aufrechterhalten können.
Vor allem nicht, wenn die Wahrheit bereits die Runde machte. Der Wittelsbacher Ludwig V. hatte ihm ebenfalls eine Nachricht zukommen lassen. Darin hatte er verhaltene Freude gezeigt, aber Fulbach signalisiert, dass er nichts überstürzen würde. Erst wenn sich der König nach Aufforderung nicht zeigte, würde Ludwig eingreifen und seine Ansprüche auf die deutsche
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