Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
Vogelweide oder Wolfram von Eschenbach, und vor allem keine Treffen mehr mit Johann. Dass sie ihren Freund aus ihrem Leben würde verbannen müssen, schmerzte sie am meisten. Rebekka schüttelte die trüben Gedanken ab, sie wollte sich den herrlichen Wintertag nicht von Zukunftssorgen verderben lassen.
Gerade als sie zurück in die Stube treten wollte, kam ein kleiner Junge herbeigerannt. »Seid Ihr Rebekka bat Menachem?«, fragte er außer Atem.
»Die bin ich.« Sie musterte den Jungen, sie hatte ihn noch nie gesehen.
»Hier.« Er hielt ihr die ausgestreckte Hand hin. Ein kleiner weißer Stein lag darauf.
»Was ist das?«, fragte sie verwirrt.
»Soll ich Euch bringen. Ihr wüsstet, was es zu bedeuten hat.«
Benommen nahm Rebekka den Stein entgegen.
Der Junge wandte sich ab und rannte davon.
Sie blickte ihm hinterher, spürte dabei den Stein zwischen ihren Fingern, der noch warm war von der Hand des Jungen. Und vielleicht auch von der Hand desjenigen, der ihn dem kleinen Boten übergeben hatte. Johann. Vor zwei Wochen hatten sie sich kurz getroffen, und Johann hatte ihr erzählt, dass sein Onkel verstorben war. Sie hatten darüber gesprochen, wie sie ihre Toten bestatteten, und Rebekka hatte ihm davon berichtet, dass die Juden kleine Steine als Zeichen des Gedenkens auf dem Grab ablegten, wenn sie die Toten besuch ten. Sie betrachtete den Stein in ihrer Hand. Johann wollte ihr sagen, dass er an sie dachte. Plötzlich ergriff sie eine unbändige Sehnsucht nach ihm. Ob er bei der Burg auf sie wartete?
Rasch trat sie zurück ins Haus und entnahm der Vorratskammer den Krug mit dem Lampenöl. »Ich gehe schnell neues Öl besorgen!«, rief sie in Richtung Küche, wo die Magd, die bei den Hausarbeiten half, mit dem Abwasch zugange war. Wie viele Juden beschäftigten auch ihre Eltern eine christliche Bedienstete, die am Sabbat, wenn sie selbst nichts tun durften, das Essen zubereitete und die Lampen entzündete.
»So spät noch? Es dunkelt bereits.« Die Magd erschien auf der Schwelle, die Stirn besorgt in Falten gelegt.
»Ich beeile mich. Vater möchte bestimmt nicht, dass wir heute Abend im Dunkeln sitzen.« Rebekka warf sich den Mantel über die Schultern und rannte los. Der Krug mit dem Öl war noch fast voll, und sie musste achtgeben, dass sie nichts verschüttete.
Atemlos erreichte sie das Stadttor und schlich kurz darauf durch die verfallenen Mauern der alten Burg. Bis auf einige Tierspuren war der Schnee hier unberührt. Erst am Eingang zur Kapelle entdeckte sie Fußspuren. Johann! Sie trat ins Innere, und tatsächlich, da stand er und lächelte sie erfreut an.
»Rebekka«, rief er. »Ich wusste nicht, ob du kommen kannst.«
Unwillkürlich verglich sie sein warmes Lächeln mit dem strengen Gesicht Abrahams. Sie schluckte. »Ich – ich kann nur ganz kurz, Vater wäre sehr böse, wenn er wüsste, wo ich bin.«
»Geht es dir gut?«
»Ich soll im nächsten Jahr heiraten.« Es sprudelte aus ihr heraus, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte.
»Aber bist du nicht noch zu jung?«, stammelte er.
»Ich bin fast fünfzehn. Wenn ich heirate, werde ich sechzehn sein.«
»Und? Wie ist er so, dein Verlobter? Ist er ein fescher Bursche? Magst du ihn?« Er lächelte sie an.
Es sollte wohl aufmunternd wirken, doch Rebekka musste ihre ganze Kraft aufwenden, um nicht in Tränen auszubrechen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Abrahams schmalen, zusammengepressten Mund, der sich über Johanns Lächeln legte. Und mit einem Mal hielt sie es nicht mehr aus. »Ich kann das nicht!«, stieß sie hervor, und stürzte aus der Kapelle. Ohne nach rechts oder links zu schauen, rannte sie nach Hause, stellte mit zitternden Fingern den Ölkrug zurück, stolperte die Treppe hinauf, warf sich in ihrer Kammer aufs Bett und schluchzte hemmungslos.
***
Der Bote hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass Engelbert sofort kommen musste. Seufzend erhob er sich. Er warf einen Blick durch das Fenster auf den Hof der Kommende. Rebekka war nicht zu sehen. Sie war mit Vila beschäftigt. Seit vorgestern war sie verändert. Seit er sie gewürgt hatte. Er war zu weit gegangen, hatte sie behandelt wie einen Mann, der für den Kampf gedrillt werden sollte. Das trug sie ihm nach.
Immerhin klappte es nun mit dem Reiten. Sie war geduldiger geworden, aber noch lange nicht geduldig genug. Sie musste lernen, wie eine Katze auf der Lauer zu liegen und dabei nicht einmal zu atmen. Dazu würden sie auf der Reise nach Znaim genug Zeit haben. Vila schien
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