Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
Wie sollte sie dem Hauptmann erklären, warum die Nichte eines christlichen Kaufmanns aus Prag wissen wollte, wie es den Juden in Rothenburg ergangen war?
»Ich habe schon von diesem Mann gehört«, erklärte Vojtech. »Doch ich bin ihm nie leibhaftig begegnet. Wir werden sein Haus finden. Vertraut mir.« Er instruierte seine Leute und forderte sie auf, ihm zu folgen.
Für einen winzigen Augenblick wunderte Rebekka sich, wie glatt alles lief. Mit welcher Selbstverständlichkeit der Hauptmann seinen Posten verließ, um ihr zu Diensten zu sein. War seine Dankbarkeit so groß? Oder handelte er auf Befehl des Königs? Sollte er sie im Auge behalten?
Sie nahm sich vor, nicht in ihrer Wachsamkeit nachzulassen und nur unter vier Augen mit dem Abecedarium zu sprechen.
Es dämmerte bereits, als sie das Stadttor im Süden erreichten, das zum Vyšehrad führte, der alten Prager Burg. Vojtech von Pilsen verhandelte kurz mit dem Torwächter, der schnell etwas in seine Tasche steckte und sie dann durch eine seitlich gelegene Pforte schlüpfen ließ. Diese kleine Pforte am Südrand der alten Stadt, so hatte Vojtech ihr erklärt, war für die Öffentlichkeit eigentlich gesperrt. Für den Hauptmann der königlichen Wache galt diese Beschränkung jedoch nicht.
Jenseits der Stadtmauer öffnete sich vor ihnen ein Taleinschnitt. Auf dem gegenüberliegenden Kamm waren Teile des Vyšehrads zu sehen. Von seinen Zinnen wehten Fahnen mit dem Wappen des Königs. Rechts und links davon ragten die ersten Türme der neuen Befestigungsmauer in die Höhe. Tagsüber schleppten hier hunderte Arbeiter Steine, hoben Gräben aus und mischten Mörtel, doch nun in der Dämmerung war alles still.
Beklommen betrachtete Rebekka den Mann an ihrer Seite. Er war unrasiert, sodass seine Narbe unter den Bartstoppeln kaum zu sehen war. Seine grünen Augen waren auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Sie musste plötzlich an Hermo Mosbach denken und wünschte sich, Engelbert von der Hardenburg wäre bei ihr.
Vojtech von Pilsen schien ihre Angst zu spüren. »Bei mir seid Ihr sicher, Amalie Severin. Habt Vertrauen.« Er deutete auf ein Gebäude. »Lasst uns dort nach dem Weg fragen.« Er machte ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, und setzte sich in Bewegung.
Nach einer halben Stunde Fußmarsch und dem vergeblichen Klopfen an einigen Türen fanden sie schließlich das Haus des Abecedariums von Prag. Es war ganz aus Holz gebaut und so windschief, dass es aussah, als würde es jeden Augenblick einstürzen. Eine ärmliche Behausung, die wohl abgerissen würde, sobald die erweiterte Stadtbefestigung fertig war und hier überall neue Häuser emporwuchsen.
Rebekka betrachtete ungläubig die Fassade mit der abblätternden Farbe. Hier sollte der Mann wohnen, der alles über Prag wusste?
Von Pilsen trat vor und klopfte so energisch an, dass Rebekka fürchtete, die Tür würde aus den Angeln brechen.
Nichts rührte sich. Von Pilsen hob erneut die Faust und schlug an die Tür. Endlich hörten sie aus dem Haus einen Fluch, dann ein Poltern, und kurz darauf schwang die Tür nach innen auf. Rebekka hielt den Atem an. In der Tür stand ein buckliger Zwerg, der sich nach hinten lehnen musste, um sie anzuschauen.
Von Pilsen blieb unbeeindruckt. »Ich grüße Euch. Mein Name ist Vojtech von Pilsen, Hauptmann der königlichen Wache. Dies ist Amalie Severin, Nichte des Kaufmanns Tassilo Severin.« Er zeigte auf Rebekka und verbeugte sich leicht. »Sie wünscht Euch zu sprechen.«
Der Zwerg kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »In welcher Angelegenheit?«
»Dürfte ich …« Rebekka sah ihn eindringlich an.
Der Zwerg schien zu verstehen. »Kommt herein. Euer Begleiter kann draußen warten, in meinem Haus seid Ihr sicher.« Er blickte kurz zum Dach hinauf, wo einige Schindeln fehlten. Rebekka glaubte, ein schwaches Grinsen über sein Gesicht huschen zu sehen.
Vojtech wollte protestieren, doch Rebekka hob die Hand. »Das geht in Ordnung, Hauptmann. Bitte wartet hier auf mich.«
Sie folgte dem Zwerg ins Innere, wo es überraschend aufgeräumt war und nach Kräutern und etwas anderem duftete, das ihr vertraut erschien. Dann sah sie es. Regale säumten die Wände, angefüllt mit Büchern bis unter die Decke. Es war der Geruch nach Leder und Pergament, der Rebekka an das Haus des Rabbi Isaac erinnerte.
Der Zwerg sah zu ihr auf. »Wie kann ich Euch dienen?«
Rebekka holte Luft. »Wisst Ihr etwas über die Juden in Rothenburg?«, fragte sie ohne Umschweife.
»Was hat eine
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