Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
Zeichen, dass Gott zürnte. Würde er die Stadt bestrafen für die furchtbare Schuld, die sie auf sich geladen hatte? Würden er und seine Familie ebenfalls bestraft werden, obwohl sie unschuldig waren? Waren sie denn unschuldig? Hätten sie es nicht verhindern müssen? Hätte er Rebekka retten können, wenn er nicht so betrunken gewesen wäre, dass er nicht einmal mehr seinen eigenen Namen wusste?
Johann spürte ein Ziehen im Magen. Seit Tagen konnte er kaum essen. Wenn er durch die Straßen ging, mieden viele seinen Blick, andere aber posaunten ungeniert heraus, dass die Stadt endlich vom Ungeziefer gereinigt sei.
Er wandte sich ab und ging los. Er wünschte sich, dass Gott diese Verbrecher in die Hölle werfen möge. Gestern hatte er sich mit Arnfried von der Neumühle im Tal geprügelt, weil der damit angegeben hatte, allein die Hälfte der Juden getötet zu haben. Vier Männer mussten Johann von dem widerlichen Wurm herunterzerren, sonst hätte er ihn erwürgt. Arnfried hatte ihm gedroht, ihn vor die Richter zu zerren, doch nichts war geschehen. Natürlich war es dumm gewesen, sich mit dem Schwachkopf zu prügeln, doch zumindest hatte es Johann für ein Weilchen eine gewisse Befriedigung verschafft. Die hatte allerdings nicht lange angehalten.
Durch das Würzburger Tor verließ er die Stadt, wandte sich nach Norden und folgte dem steinigen Weg, der zum Schubertshügel führte.
Der Stein in dem Samtbeutel, den er am Gürtel trug, schien einen Doppelzentner zu wiegen, obwohl er nicht einmal faustgroß war. Johann war rastlos umhergewandert, hatte Dutzende Steine aufgehoben, sie gesäubert und wieder fallen lassen. Gut vier Meilen die Tauber abwärts hatte er endlich den richtigen gefunden. Einen weißen, fast runden Kiesel. Feine rote Linien durchzogen ihn wie Adern, in denen das Blut pulsierte. Er hatte an Rebekka denken müssen, an das Leben, das in ihr pulsiert hatte und das sie im Feuer verloren hatte, während er betäubt vom Suff in seinem Bett gelegen hatte.
Seine Tränen waren auf den Stein getropft, bis er vor Nässe geglänzt hatte.
Immer wieder blieb Johann stehen, sank auf die Knie. Beschwerlich sollte der Weg zum Grab sein, so hatte Rebekka es ihm erzählt, so war es Brauch bei den Juden.
In Bottichen und mit Schubkarren hatten sie die Gebeine der jüdischen Gemeinde zu Rothenburg hinauf in den Wald gekarrt, dort in eine Grube gekippt, Kalk darüber geschüttet und sie dann mit Erde bedeckt. Alle waren tot. Männer, Frauen, Kinder. Niemand war entkommen, der seinen Glaubensbrüdern die letzte Ehre hätte erweisen können.
Wie ein alter Mann erhob Johann sich und schleppte sich die letzten hundert Fuß den Hügel hinauf. Einen Moment lang musste er sich orientieren, dann hatte er das Massengrab gefunden. Wer nicht wusste, wo es lag, würde es übersehen. Denn sie hatten die Grassoden wieder festgestampft und zusätzlich Laub darübergestreut.
Seine Hände begannen zu schmerzen, fast den ganzen Weg hierher hatte er sie zu Fäusten geballt. Er streckte seine Finger aus, massierte sich die Gelenke, hob seinen Blick zum Himmel und riss sich das Hemd auf, vom Hals bis zur Hüfte.
»Mein Herz ist nicht nur zerrissen, Rebekka!«, schrie er in die Wolken, die sich auftürmten wie die Zinnen einer uneinnehmbaren Festung. Vorsichtig nahm er den Kiesel aus dem Samtbeutel und drückte ihn sich an die nackte Brust. »Mein Herz ist zu Stein geworden, in dem Moment, als du gestorben bist.«
Der Länge nach warf er sich auf den Boden, presste sein Gesicht ins Gras. Beide Hände über dem Kopf ausgestreckt, drückte er den Kiesel in das lockere Erdreich.
»Für immer soll mein Herz bei dir sein, bis zu dem Tag, an dem wir uns wiedersehen im Angesicht Gottes. Erst dann wird es wieder beginnen zu schlagen.«
Mit einem Ruck federte er hoch. Jetzt kam der Teil der Zeremonie, der ihm am leichtesten fiel.
»Rebekka! Du warst gütig, liebevoll und treu. Du hast niemandem je Schaden zugefügt. Niemals hast du jemandem Schlechtes gewünscht. Rein war deine Seele. So wie die Seele deiner Eltern, deiner Freunde und deiner Gemeinde frei war von bösen Gedanken.«
Er hob die rechte Hand und reckte sie in den Himmel. »Bei Gott schwöre ich, dass ich niemals wieder ein solches Unrecht hinnehmen werde. Und wenn es mein eigenes Leben kosten sollte. Und ich schwöre, dass ich mich nie wieder so mit Wein betrinken werde, dass es mir den Verstand raubt.« Fast war es vollbracht, Johann faltete die Hände. »Gott hat
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