Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
sich, da er ein Schuldgefühl in sich aufsteigen spürte, schon von der Bank erhoben, als die Hand des Mannes, der neben ihm saß, ihn zurückhielt: »Lassen Sie diese Menschen gewähren«, sagte er. »Lava, die aus einem Vulkan strömt, hält man besser nicht auf. Es genügt, die Kontrolle zu behalten, aufzupassen, dass nichts überläuft, zu warten, bis dieses Unwetter vorüberzieht.«
Dann hob auch er, geradeso wie die Verrückten, die Arme zum Himmel, wo der Schwarm noch immer kreiste. Er schwang sie, hob und senkte sie in Richtung der Vögel, und einen Augenblick lang kam er Beniamino wie ein Zauberer vor, der den Schwarm in eine bestimmte Richtung lenken konnte, wie ein Kind, das die Schnur eines Spielzeugdrachens, einer schnellen Flugzeugstaffel in Händen hielt, die nun tatsächlich, wie von den Bewegungen seiner Arme gelenkt, einen neuen Flugraum suchte.
Der Himmel leerte sich, und als wäre der Hof sein Spiegelbild, verließen auch die Verrückten nach und nach den Platz, um sich erschöpft in die übliche Apathie sinken zu lassen.
Der Mann blieb noch eine Weile stehen, blickte in den Himmel und wandte sich dann zu Beniamino um: »Ich bin jedenfalls Doktor Rattazzi«, sagte er, eine Hand ausstreckend, »und habe just heute meinen Dienst in dieser Residenz angetreten.«
Er ließ seinen Blick über den Hof schweifen, als wollte er einen Gedanken überprüfen, der ihm durch den Kopf ging, dann stieß er hervor: »Denken Sie immer daran, die Vögel dort oben haben einen besseren Überblick als wir.«
D IE A NKUNFT VON Doktor Rattazzi brachte eine frische Brise in die abgestandene Luft, in der im Irrenhaus das Leiden wiedergekäut wurde. Keine großen Neuheiten, keine Revolution, nur eben dieses Gefühl, jemand habe ein Fenster halb geöffnet, durch das der leise Hauch einer frischen Brise eindringen konnte. Freilich konnte in dieser erstarrten Welt schon die bloße Möglichkeit von Veränderung wie ein gefährliches Attentat auf ein mühsam erreichtes und bewahrtes Gleichgewicht angesehen werden.
Doktor Rattazzi war zweifellos anders als die anderen Ärzte, denn er konnte ebenso entgegenkommend und jovial in den Beziehungen zum Personal wie skrupulös und unnachgiebig bei jeder Nachlässigkeit und Verfehlung gegenüber den Patienten sein. Besonders die Aufseher und Schwestern taten sich schwer, seine ständige Anwesenheit auf den Stationen zu verstehen und zu akzeptieren, sein Verlangen, die Krankengeschichten der Verrückten genau kennenzulernen, seine fast schon manische Aufmerksamkeit für die Verhaltensweisen dieser dahindriftenden Boote.
Es war, als wollte er damit seinen eisernen Willen bekunden, nicht vor dem zu kapitulieren, was für fast alle, einschließlich der Ärzte, eine offenkundige Tatsache war: die übermenschliche Gewalt des Wahnsinns, der diese Seelen quälte, seine noch fast völlig rätselhafte Natur, die schwer zu verstehen und zu bewältigen war.
Was an diesem Arzt am meisten irritierte, war seine Nähe zum Leiden, eine Art mitfühlender Teilhabe, die sich durch sein unablässiges Fragen zeigte, sein Bemühen, mit den grimassierenden Mündern zu sprechen, seinen Willen, mit den erloschenen Augen Blickkontakt aufzunehmen, seine Gespräche über die Inhalte ihre Träume und das Notieren bestimmter Vorfälle.
Ein solches Verhalten war eine empfindliche Störung der Gewohnheiten dieser Irrenanstalt einer Kleinstadt in der Provinz, die auch prompt begann, ihren Frieden mit der alten Waffe böser Nachrede zu verteidigen. Und so machten alsbald Geschichten über Rattazzi die Runde. Seine vorhergehenden Anstellungen seien stets von Auseinandersetzungen mit den anderen Ärzten, von eigenwilligen und kläglich gescheiterten Heilversuchen geprägt gewesen, und seine jetzige Tätigkeit sei die Strafe für erwiesene Unfähigkeit.
Mit diesem Spinnennetz aus Worten wehrte das Immunsystem der Gemeinschaft sich erfolgreich gegen den Eindringling, und binnen weniger Monate gelang es, ihn zu isolieren wie ein nicht zum Gemeinschaftskörper gehörendes Bakterium. Rattazzi wurde zu guter Letzt als eine bizarre Laune der Anstalt, als ein Farbtupfer angesehen, der, wenn man ihm nicht zuviel Präsenz gestattete, mit dem gedämpften Tonus der Gewohnheit durchaus hätte friedlich zusammenleben können.
Darin waren Rattazzis Ärztekollegen nämlich Meister, allen voran Professor Tiziani: immer darauf bedacht, sich nicht zu weit auf neue Perspektiven einzulassen, jedwede Neuerung zu vermeiden, die diese
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