Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
in vielen Jahren geschaffene Oase der Ruhe gefährden konnte.
Ohnehin kam fast alles gedämpft, abgemildert in diesem Winkel der Provinz an, sogar das Geschrei mit dem der Duce auf den schicksalsträchtigen Hügeln Roms die Wiedererstehung des Römischen Reiches ausgerufen hatte. Und ebenfalls aus Rom kamen die Forschungsarbeiten zweier Professoren, die eine höchst moderne, revolutionäre Therapie zur Behandlung von schizophrenen Patienten entwickelt hatten, einen Apparat und eine Reihe Elektroden, die Elektrizität durch das Gehirn der Verrückten fließen lassen sollten.
Tiziani war dort gewesen, in der Poliklinik von Rom, um sich dieses Wunderding anzusehen, und hatte den Kollegen dann von der »Elektrokonvulsionstherapie« berichtet, die zwar unerfreulich anzusehen und anzuwenden sei, wie er sagte, doch nach den ersten Ergebnissen zu urteilen ein unfehlbares Heilmittel, um mit Hilfe von stimulierenden Konvulsionen den verheerenden Auswirkungen der Schizophrenie Einhalt zu gebieten.
Die Frage war nun allerdings, ob man sich in dieses Experiment stürzen und sich, im Einklang mit dem, was das Regime predigte, als Pioniere der Forschung zum Wohle der Menschheit gerieren oder ob man nicht lieber geduldig neue Ergebnisse abwarten sollte, ohne das prekäre Gleichgewicht zu gefährden, das mit viel Mühe in jahrelanger Arbeit errichtet worden war. In diesem Zwiespalt gefangen, ließen die Ärzte der Irrenanstalt die Zeit verstreichen, verlangsamten ihren Lauf mit gründlichen Überlegungen, mit langen, heiklen Diskussionen, die verwickelt genug waren, um den Aufschub jeder Entscheidung zu rechtfertigen.
Doktor Rattazzi nahm an diesem Spiel nicht teil, er war sogar froh über seine Ausgrenzung aus dem Leben der Irrenanstalt, die er sich mit seiner Exzentrik eingehandelt hatte. Er nutzte sie, um ungestört die Verrückten zu beobachten und irgendwelche Bemerkungen in seinen Heften zu notieren.
Beniamino schloss sich der Ächtung Rattazzis durch die Gemeinschaft nicht an. Im Gegenteil, insgeheim verspürte er sogar Zorn angesichts der Gleichgültigkeit, mit der dieser Arzt auf die Respektlosigkeit reagierte, die seine Kollegen ihm bezeigten, auf die ironischen Bemerkungen der Aufseher, auf die allgemeine Trägheit, die ihn umgab. Beniamino mochte Rattazzi, er war ihm sympathisch, flößte ihm Vertrauen ein, und mit seiner Liebenswürdigkeit erinnerte er ihn in mancher Hinsicht an Ignazio, darum hätte er gerne mehr Wertschätzung um ihn herum gesehen. In gewisser Weise fühlte er sich ihm seelenverwandt, denn obwohl er vom ersten Arbeitstag an versucht hatte, sich den Gepflogenheiten und Erfordernissen dieses Ortes entsprechend zu verhalten, hatte er sich mit seinen Kollegen und den Schwestern doch nie im Einklang gefühlt, und die Ärzte waren sogar immer eine eiskalte, unerreichbare Galaxie gewesen.
Rattazzi aber war da, war gegenwärtig und nah. Und wenn Beniamino Fosco zu einer Bank im Hof führte, setzte er sich manchmal zu ihnen wie beim erstenmal, als sie einander kennengelernt hatten, und dann zupfte er wieder, ohne ein Wort zu sagen, ein paar Rosenblätter ab, um ihr Kinderspiel zu wiederholen, als wäre es ein Kapitel aus einem Familienlexikon.
Wenn sie dann so zu dritt schweigend dasaßen, um die Blütenblätter zu zerreiben und daran zu riechen, spürte Beniamino das Geheimnis einer verborgenen Sprache, wie etwas, was nicht explizit gesagt wurde, aber eine Mitteilung war und sie verband. In dieser Verbindung, die sich im unbeweglichen Mittelpunkt des Irrenhauses entfaltete, gab es die scharfen sozialen Unterscheidungen nicht, mit denen die Klinikordnung die Krankheit im Zaum halten wollte. Jeder der drei zeigte, indem er an diesem Spiel teilnahm, dass ihm etwas fehlte, und während der kurzen Zeit, in der sich der Duft der Blütenblätter ringsumher verbreitete, saßen auf dieser Bank kein Arzt, kein Irrer und kein Aufseher, sondern drei Menschen mit ihren Zweifeln und Fragen.
Wahrscheinlich entstand so ihre Freundschaft. Durch diesen wortlosen Dialog zwischen den verzweifelten Zwangshandlungen des Albatros, den Unsicherheiten Beniaminos und den fehlgeschlagenen Bemühungen des Doktor Rattazzi. Keiner der drei wusste es so genau. Sie spürten nur, dass diese Nähe ein Augenblick zum Atemholen sein konnte in der stickigen Luft, die sie, zäh wie Melasse, umgab. Sie ahnten, dass ihre stillschweigende Gemeinsamkeit ihnen Erleichterung von etwas verschaffte, für das es keinen sicheren Trost geben konnte.
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