Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
Phantasie zu gebrauchen, um an Orte vorzudringen, die uns Angst einflößen, vor denen wir uns mit dem Schild der Wissenschaft und der Vernunft schützen.
Beniamino verstand nicht ganz, was das bedeuten sollte, und nahm diese Bemerkung ein bisschen so auf wie die Verse von Professor Cavani, etwas Poetisches, das eine unklare Idee begleitete. Doch der Eindruck, dass es ihm gelungen war, Fosco beizustehen, war deutlich, und er machte Beniamino froh und zufrieden.
Dieses Gefühl gab seiner Arbeit Würze, es verlieh dem sklavisch genau geregelten, eingespielten Ablauf der täglichen Verpflichtungen vom Bettenmachen, Putzen und Aufräumen der Räume bis zur Überwachung der Patienten und der Essensausgabe einen Sinn.
Beniamino wurde wissbegierig wie ein Reisender, der in ein fremdes Land kommt und versucht, seine Lebensformen, seine Architektur und seine Sprache zu verstehen. Wann immer er sich der Tyrannei seiner Pflichten entziehen konnte, setzte er sich neben einen der Irren, um seinen starren Blick, das fortwährende Wackeln des Kopfes oder das Zittern des Mundes zu beobachten, als suchte er darin einen Zugang, um endlich die Verzweiflung erkunden zu können, die sich hinter dieser schauderhaften Kruste verbarg.
Und so kam es, dass er nun, so wie er als Kind gegen Aidas Vorhaltungen oder die mahnenden Rufe seiner Mutter hatte ankämpfen müssen, in der Anstalt dem Tadel der Schwestern oder Kollegen trotzen musste, die in seinem Verhalten etwas Abseitiges sahen, überdies an einem Ort, wo es ihrer Meinung nach schon viel zuviel Abseitiges gab.
Beniamino aber, beflügelt von seiner Neugierde, verzichtete nicht darauf, mit Professor Cavani spazierenzugehen, begleitet von Homer und der Angst vor den Göttern, und Fosco so lange in seine Abgründe aus Schweigen zu folgen, bis der Albatros ihn bemerkte und mit einem Lächeln oder einem Wort für Beniamino an die Oberfläche zurückkehrte.
Auf diese Weise veränderte sich Beniaminos Leben und entfernte sich von dem Häuschen, das doch direkt an den Hof der Irren grenzte. Vielleicht lag es aber auch gerade an dieser Nähe, dass sein Dasein ihm nunmehr vollkommen vom Raum der Irrenanstalt umschlossen schien und auch das Haus, wo er geboren und aufgewachsen war, ein Teil dieses Raumes wurde.
Elemira war darüber nicht wenig betrübt, denn die Anstellung ihres Sohnes hatte zwar die drückendsten finanziellen Probleme gelöst, aber was sollte sie mit einem Jungen anfangen, der mittlerweile fast gar nicht mehr am Familienleben teilnahm und weit über seine Arbeitszeit hinaus vom Kontakt mit diesen verlorenen Seelen hinter dem Gitter absorbiert wurde? Sie sah Ignazios verstaubtes, verwahrlostes Warenlager, und ein Kloß aus Wehmut, vermischt mit Schuldgefühlen, verschloss ihr die Kehle. Und jedesmal wenn sie sich um die Kaninchen kümmerte, hörte sie laut und deutlich, als wären sie eben ausgesprochen worden, im Geist die letzten Worte ihres Mannes, bevor der Tod ihn einen Augenblick später an den Küchenstuhl nagelte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie die Türen dieser Käfige längst geöffnet und die Kaninchen über die Wiese laufen lassen, damit sie sich selbst ihr Gras suchten und ihr eine Arbeit ersparten, die sie nur auf sich nahm, um den letzten Wunsch ihres Mannes zu erfüllen.
Während sie ihre Tiere versorgte, sah sie ihren Sohn zusammen mit den Verrückten auf der anderen Seite des Gartens und sah Aida in irgendwelche Fernen starrend am Gitterzaun sitzen, und dann packte sie ein Gefühl der Einsamkeit, umklammerte sie und drückte sie so fest, wie es nicht einmal Ignazio getan hatte. Elemira fühlte sich verlassen, sie spürte eine Leere in ihrem Inneren, die sie gerne mit Tränen gefüllt hätte, um die Erinnerungen und Versprechen, die Liebe zu ihren Kindern und das Gespenst eines Mannes, das sie noch immer an alles fesselte, was ihr aufs Herz drückte wie ein Mühlstein, ein für allemal zum Teufel zu jagen. Manchmal sah sie sich verirrt, auf einem schmalen Gebirgsgrat taumelnd, aufgehängt am Haken einer Vernunft, die sie zwang, sauberzumachen, Aida zu umsorgen und Mara aufzumuntern, die verfluchten Kaninchen zu füttern und weiterhin zu hoffen, dass Beniamino endlich sein Studium abschloss. Und so begann Elemira, gleich einer Feder, die darauf wartet, dass ein Windhauch sie davonträgt, die Verrückten zu beneiden, sich nach ihrem Wahnsinn zu sehnen wie nach einer dunklen Höhle, in die man sich zurückziehen kann, um auszuruhen, wo man seine
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