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Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Titel: Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ugo Riccarelli
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Gedanken ziellos umherschweifen und den Mund nur ein einziges Wort sagen lassen kann, wo sie weit weg von allem war, was ihr Leben an dieses Haus fesselte.
    Doch eine Stimme von der Straße genügte, Mara, die nach ihr rief, oder ein Kochtopf, den sie auf dem Feuer stehengelassen hatte, und schon kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. Neben den Käfigen, wenige Meter von dem Hof entfernt, wo Beniamino über die Verzweiflung der Verrückten wachte, sah sie die verzerrten Gesichter, die unkontrollierten Bewegungen und die starren Blicke, hörte die Schreie, die die Luft erschütterten. Dann machte sie, als wäre sie plötzlich erwacht, rasch ein Kreuzzeichen und bat Gott und die Madonna um Vergebung für solch schamlos sündige Gedanken. Flüsternd dankte sie Gott und fuhr fort, die Käfige zu säubern, Stoßgebete der Reue und des Bedauerns murmelnd, die sie unendlich oft wiederholte wie die obsessiven Litaneien der Verrückten, und bat zuletzt um die Gnade, dass der Sohn endlich promovieren, die Tochter gesund bleiben und einen anständigen Jungen finden möge, ehrlich und fleißig wie Ignazio, und dass der Tod sich bald und ohne grausam zu wüten den Körper Aidas holte, da ihre Seele sich sowieso schon seit geraumer Zeit wer weiß wohin verirrt hatte.
    Also schnitt Elemira weiterhin Gras für die Kaninchen, versuchte die ungereimten Reden ihrer alten Mutter zu verstehen, beschützte Mara, die als Waise aufwachsen musste, und hoffte, dass das Irrenhaus ihr den Sohn zurückgeben würde, oder dass er zumindest das Studium beendete und sie für den Schmerz entschädigte, den das Leben ihr zugedacht hatte, nachdem Ignazio mit seiner Liebe verschwunden war.
    Beniamino sollte unterdessen buchstäblich auf die Liebe stoßen, als er eines Tages gegen Marcella Bini prallte, die Küchenhilfe, die mit dem Brotwagen auf ihn zukam. Er versuchte gerade, so schnell er mit seinem Hinkebein konnte, zum Schlafsaal zu laufen, wohin die Oberschwester ihn wegen einer dringenden Aufgabe gerufen hatte, und ganz auf sein unsicheres Laufen konzentriert, konnte er nicht rechtzeitig anhalten, um den Zusammenstoß mit Marcella zu vermeiden, die aus der entgegengesetzten Richtung auf die Stelle zukam, wo die Küchenräume vom Flur abzweigten. Der Aufprall war heftig und komisch zugleich: Der Junge landete, mit den Beinen zappelnd, auf dem Boden, zusammen mit Dutzenden von Brötchen, die in alle Richtungen davonrollten. Marcella sah ihren Kollegen am Boden und erschrak, weil sie dachte, der Stoß hätte dem lahmen Bein womöglich weiteren Schaden zugefügt.
    »Mein Gott, was für ein Missgeschick«, stammelte sie und beeilte sich, ihm eine Hand zu reichen, »haben Sie sich weh getan?«
    Diese Besorgnis ärgerte Beniamino sehr. Ihn störte sogar der hohe Ton in der Stimme des Mädchens, das sich bückte, um ihm zu helfen. Seine Behinderung erzeugte in ihm ein Gefühl der Minderwertigkeit, und vor einer Frau hätte er ein Unrecht oder einen Schaden, der ihn in ihren Augen schmälerte, schon gar nicht zugegeben. Also reagierte er auf die schlechtmöglichste Weise und sehr unhöflich.
    »Es würde mir bessergehen, wenn Sie aufpassten, wo Sie Ihre Füße hinsetzen«, sagte er, den hohen Tonfall der weiblichen Stimme imitierend, während er die ihm gereichte Hand brüsk beiseite schob.
    Marcella war bestürzt über eine so rüpelhafte Reaktion von seiten eines Menschen, den sie immer für wohlerzogen und höflich gehalten hatte.
    Obendrein lief Beniamino nun, nachdem er eilig aufgestanden war, hinkend zwischen den am Boden verstreuten Brötchen davon, ohne das arme Mädchen eines Grußes zu würdigen, das beschämt, ein Gewirr unangenehmer Gedanken im Kopf, vor einem Haufen Brötchen zurückblieb, die aufgesammelt und gesäubert werden mussten.
    Erst später, nachdem eine gute Spanne Zeit verstrichen war, erkannte Beniamino, dass er wie ein Flegel reagiert hatte, und eine glühende Scham überkam ihn. Er kannte Marcella vom Sehen, und ein paarmal hatten sie auch einige Worte gewechselt, die mit der Arbeit zusammenhingen. Außerdem war sie erst vor kurzem eingestellt worden, es wäre also auf jeden Fall geboten gewesen, ihr zu helfen.
    Vor allem aber gefiel ihm Marcella. Sie war klein und zart, aber sie strahlte Energie und eine positive Kraft aus, von der ihr offener, fast immer lächelnder Blick und ihre freundliche Art zeugten. Das Gefühl, etwas Abscheuliches getan zu haben, verließ Beniamino während der ganzen restlichen Arbeitsschicht nicht,

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