Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
verbreitete, Aida sich an den Kaninchenställen zu schaffen machte und er im Schutz des zweistöckigen Häuschens aufwachsen durfte. Noch hatte niemand ihn gebeten, zu studieren, und die Promotion war ein Traum, der im Herzen seiner Eltern nistete und in den vielen hundert Laken gewrungen wurde, die Aida im Graben gewaschen hatte. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich noch keine Bücher, und sein Bein war noch heil und gerade wie sein Gang. Wieder rief Elemira seinen Namen, doch er zeigte keine Regung, kaute seelenruhig an seinen Rosen.
Am Küchentisch des Pianoro sitzend, sahen die Verrückten Beniamino endlich auf der anderen Seite des Zauns angekommen. Mita fixierte ihn mit offenem Mund. Aufmerksam verfolgte sie, wie die Hand ihres »Dottore« sich hob und auf die nichtvorhandenen Rosen zubewegte, ihre unsichtbaren Blüten abpflückte, sie in den Mund steckte und zufrieden kaute. Sie sah den glücklichen Ausdruck in Beniaminos Gesicht und beneidete ihn. Sie beneidete ihn um die Ruhe und Eleganz seiner Bewegungen und den Genuss, den er beim Kauen ganz offensichtlich empfand. Das war etwas, was sie in diesem Moment selbst gerne erlebt hätte, etwas, was sie von der Leere hätte befreien können, die sie auch an diesem Morgen im Leib verspürte, eine Leere, schlimmer als der Hunger, ein tiefes Sehnen, das von viel weiter herkam als aus dem Magen und sie zu einer unersättlichen Gier zwang. Also stand die sanfte Mita, die so oft abseits blieb, um unbemerkt die Bürde ihres unstillbaren Hungers zu tragen, vom Tisch auf und kam langsam auf Beniamino zu, hob wie er eine Hand zur Küchenwand und riss ein Blütenblatt ab, um es zu essen.
Abgelenkt von Elemiras Stimme, die den Namen ihres Sohnes rief, wandte Fosco am Fenster seinen forschenden Blick vom Himmel ab und dem Geschehen in der Küche zu, das sich am anderen Ende des Tisches vor der Wand abspielte. Er sah Beniamino eine Hand heben, er sah ihn etwas zum Mund führen und kauen, und sofort erkannte er in diesen Gesten das Spiel, das sie zusammen mit Doktor Rattazzi so oft im Hof des Irrenhauses gespielt hatten. Er lächelte, diese Erinnerung beglückte ihn, und als er sah, wie Mita aufstand und zu Beniamino ging, um seine Bewegungen nachzuahmen, zögerte auch er keinen Augenblick, durchquerte den Raum und stellte sich neben die beiden, um die Blütenblätter von der Mauer zu pflücken, sie zu kauen und endlich zu spüren, wie die Stille nach den Schreien, die Entspannung nach dem Zittern der Angst sich beruhigend in ihm ausbreiteten. Die Last, die er ständig mit sich herumtrug, die ihm verwehrte, in den Himmel aufzufliegen, wie er es gerne getan hätte, löste sich auf, als er Rattazzis Gesicht sah, der jetzt wieder zu ihm zurückgekehrt war, im Duft der Rosen, im Brei der Blütenblätter, die Fosco noch einmal zwischen den Fingern zerreiben konnte, wie der Doktor es ihn gelehrt hatte.
Nun erhoben sich die Irren einer nach dem anderen von ihren Stühlen und gingen in der gleichen Prozession, die Beniamino als Kind fasziniert hatte, auf die Mauer zu, um von einem unsichtbaren Rosenbusch Blütenblätter zu pflücken, mit denen sie ein wenig Frieden zu sich nehmen konnten. Jeder für sich, jeder ganz auf dieses wunderliche Kauen konzentriert, feierten sie zusammen in der Küche die Wiederkehr eines Rituals aus dem Irrenhaus, das den Raum mit einer frischen Brise erfüllte. Auch Mara, Marcella, Bruni und Marzi wurden davon erfasst, ließen sich begeistern, und sogar Elemira hörte auf, den Namen ihres Sohnes zu rufen, nachdem sie ihre Besorgnis über sein Verhalten in einem Winkel ihres Herzens abgelegt hatte.
Sie sah Beniamino mit entspannten Zügen in sein Tun versunken und die anderen um ihn herum, die sich konzentriert und gleichzeitig mühelos bewegten, sie sah ihre langsamen Gesten, in denen das Zittern nach und nach schwächer wurde, der Würgegriff der Krankheit sich lockerte, und auf einmal erschien ihr diese Gruppe plumper, unbeholfener Menschen schön. Sie formten ein Bild im Licht der Morgensonne, die durch das Fenster fiel, um eine Szene zu beleuchten wie im Theater.
Das sah Elemira, und in dem Augenblick begriff sie, was Benimaino schon als Kind bewundert hatte, wenn er sich an den Maschendraht im Garten klammerte, und im selben Moment, als sie es begriff, packte sie ein tiefer Kummer: Sehnsucht nach Ignazios Körper, den Kaninchenkäfigen, dem Lächeln Aidas und der zum Trocknen ausgebreiteten Wäsche. Und sie dachte an das Kommen und Gehen der
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