Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
zwischen die Knie. Auch als er flüsternd und langsam zu ihr sprach, erhielt er keine Antwort außer einem leisen Greinen.
Er betrachtete sie aufmerksam. Wie ein Knoten sah sie aus, wie ein Igel, der sich zusammengerollt hatte, um sich vor allem zu schützen, was sie umgab, was sie von außen bedrohte, mit dem sie keinerlei Kontakt haben wollte. Aufrichtiges Mitleid erfasste Beniamino: Dieses wehrlose Geschöpf suchte Hilfe und Zuflucht. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie ein Loch auf der Treppe, im Fußboden gegraben, um hineinzusteigen und zu verschwinden. Dieses Bild brachte ihn in die Vergangenheit zurück, er sah sich selbst als Kind an den Herbsttagen, an denen der Libeccio vom Meer wehte, der mit heftigen Böen bis in die Stadt kam und auf Straßen und Plätzen ein wüstes Durcheinander anrichtete. Er heulte, ließ die Fensterläden klappern, brach Äste von den Bäumen und riss Ziegel ab, begleitet von einem lauten Getöse, das Beniamino zu Tode erschreckte. Dann verkroch er sich unter den Laken und verstopfte mit der Steppdecke jeden Zugang zur äußeren Welt, so dass eine dunkle Höhle entstand, die sich bald aufwärmte, ihn vor dem Wüten des Windes schützte und ihm Geborgenheit schenkte wie eine Umarmung von Elemira.
Bei dieser Erinnerung schloss er die Augen und hielt sie fest geschlossen, um die Gegenwart hinter sich zu lassen und wieder unter die Decken seines Kinderbettes zu kriechen. Sofort verschwand alles im Dunkel, Renatina, die Treppe, Marcella und die anderen um ihn herum wurden ausgelöscht von der Schwärze, in die er eingetaucht war wie damals als Kind.
Plötzlich stand er auf und bedeutete den anderen, sie sollten weggehen. Dann lief er in sein Schlafzimmer und holte zwei Bettlaken, kehrte zu Renatina zurück und legte ein Laken über sie, so dass sie ganz bedeckt war. Bei sich tat er das gleiche.
»Wenn ich von der Dunkelheit versteckt werde, kann mich niemand sehen«, sagte er.
»Im Dunkeln bin ich sicher, niemand kann mich sehen«, wiederholte er.
Renatina bewegte sich unter dem Laken.
»Im Dunkeln versteckt, bin ich frei«, sagte Beniamino, »ich kann alles tun, was ich im Licht nicht tun würde.« Dann fing er an, eine Melodie zu pfeifen.
Renatina löste ihre Arme, mit denen sie ihren Kopf geschützt hatte, hob ihn und schaute sich um. Sie sah sich in einem Halbdunkel sitzen, das sie umfing wie Watte. Man sah nichts anderes. Es gab nichts anderes. Von irgendwoher hörte sie Beniaminos Stimme, manchmal sprach er, dann pfiff jemand ein Liedchen. Da tat sie in dieser weichen Hülle einen tiefen Seufzer, und mit diesem langen Luftstrom fiel ein großes Stück ihrer Qualen von ihr ab.
Manchmal schlug alles über ihr zusammen. Zu viele Dinge drängten sich um sie. Zu viele Augen, zu viele Hände, zu viele Worte, zu viele Geräusche. Sogar hier im Pianoro, wo es doch schön war, gab es zu viele Farben und zu viele Menschen. Auch im Irrenhaus waren zu viele Menschen, doch dort hatte es wenigstens Ecken gegeben, wo sie sich im Schutz der Mauern verkriechen, zwischen der Monotonie der Ziegelsteine und der Weite der großen Räume verlieren konnte, ohne dass jemand sich für sie interessierte. Hier aber war das unmöglich, obwohl es hier weniger Verrückte und keine Schwestern gab. Denn das Haus war klein, und in der Küche waren sie zwar weniger als im Irrenhaus, aber trotzdem noch viele. Renatina hatte Angst vor zu vielen Leuten und auch vor den zu vielen Dingen, die die Verrückten beim Essen sagten oder wenn sie nachmittags draußen spazierengingen. Und in den Zimmern waren sie zu wenigen, aber nah beieinander und nicht im Raum verteilt wie in den Schlafsälen. Darum würde sie nicht mehr in ihr Schlafzimmer hinaufgehen, denn zu viele Leute und zu viele Worte schnürten Renatina die Kehle zu, dann fiel ihr das Atmen schwer, und alles drehte sich um sie herum.
Doch jetzt, im Schutz der warmen Hülle, die sie umgab, konnte sie endlich freier atmen und ruhig dem Liedchen zuhören, das jemand pfiff, oder der Stimme von Doktor Beniamino, der manchmal etwas sagte. Sie hörte gerne zu. Sie schaute auch gerne zu, aber nicht, wenn es zu viele Stimmen oder zu viele Menschen gab, die sich bewegten. So wie heute morgen in der Küche, als alle angefangen hatten, Rosen zu kauen. Zu viele Münder und zu viele Rosen. Und dann waren sie hinkend auf den Hof hinausgegangen, um zu reden und zu spielen, zu singen und sich Geschichten zu erzählen. Sie hätte auch gerne geredet und gesungen. Aber da
Weitere Kostenlose Bücher