Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
waren zu viele Menschen, die redeten, zu viele, die sangen, also war sie zusammengekauert sitzen geblieben, um sich vor diesem auf sie herabregnenden Stimmengewirr zu schützen.
Nun aber war sie endlich allein, niemand beobachtete sie, es gab nur jemanden, der pfiff, und Beniaminos Stimme, die manchmal etwas sagte. Also hob sie den Kopf noch ein wenig höher, atmete tief aus und begann das Lied zu singen, das ihre Großmutter ihr zum Einschlafen gesungen hatte, als sie klein war:
Renatina, meine
liebe, hübsche Kleine
läuft am goldnen Strand
auf dem nassen Sand
will den Schlaf ihr bringen
ihr ein Liedchen singen
auf dem Schoß da weint sie nicht
draußen streut der Mond sein Licht.
Renatina sang eine Weile und spürte, wie ihr beim Singen die Brust weit wurde und etwas sie zwang, immer lauter zu werden, die sanften Töne des Schlaflieds in einen Gesang zu verwandeln, mit jeden Wort lauter, bis er zu einem Rufen, einem verzweifelten und glücklichen Schrei wurde, den sie, geschützt vor zu vielen Augen und zu vielen Stimmen, im Dunkel unter dem Bettuch auf der Treppe und von dort endlich in die Welt entlassen konnte.
Unter seinem Laken hörte Beniamino die Stimme Renatinas ein Lied trällern. Es war eine sanfte Weise, ein Schlaflied vielleicht, wenige Strophen, die sie nun schon seit einer Weile wiederholte. Doch mit jeder Strophe wurde der Gesang lauter und sicherer, und schließlich hatte er sich in ein mächtiges, entschiedenes Geschrei verwandelt. Niemand hätte in diesem Gebrüll die Stimme des scheuen, fügsamen Vögelchens erkannt, als das man Renatina sonst erlebte.
Beniamino erschrak, er hatte das beängstigende und gleichzeitig erregende Gefühl, etwas Magisches, Zartes, aber Mächtiges heraufbeschworen zu haben. Einen Augenblick lang dachte er an Rattazzi, und seine Besorgnis legte sich. Dann lachte er über diesen unvergesslichen Tag. Erst hatten sie bei dem Spiel, bei dem jeder sich mit seinen kaputten Knochen mühsam über den Hof schleppen musste, ihre Ängste freigesetzt, dann hatte Beniamino die Verrückten aufgefordert, einen Kreis auf der Wiese zu bilden. Als er sie dann alle zusammen gesehen hatte, eifrig damit beschäftigt, mit Hilfe von Gesten und Worten den Schmerz zu beschreiben, den sie empfanden, war er einen Augenblick lang glücklich gewesen und hatte sich in ein fremdes Land versetzt gefühlt, unter Menschen, die jeder eine unbekannte Sprache sprachen, die einander oft nicht verstanden, sich aber bemühten, es immer wieder versuchten, einander übertönten, über ihre Sätze stolperten, abbrachen und von neuem begannen. Ein fremdes, faszinierendes Land, wo, wie auf einer Reise, an jeder Ecke Abenteuer und Schönheiten, Gefahren und Vergnügungen warteten.
Da hatte er eine neue Kraft in sich gespürt, eine Heiterkeit, die ihm plötzlich Lust machte, wirklich aufzubrechen, seine Irren zu nehmen und irgendwohin zu fahren. Als stünde er oben auf einem Abhang und könnte endlich ohne zu hinken hinunterlaufen, sagte er, ohne zu überlegen: »Jetzt spiele ich einen, der abreist, der von hier weggeht, um zu sehen, was es alles in der Ferne gibt, einen, der kreuz und quer durch viele Länder und durch die Zeit fährt, damit er sich zum Beispiel vorstellen kann, wie es im Pianoro aussah, bevor wir hier ankamen, vor zehn Jahren. Oder vor hundert Jahren.«
»Ich will nicht weg von hier«, hatte Renzo Bardi schmollend erwidert.
Beniamino hatte ihn angesehen: Renzos Lippen zitterten, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Wie ein Kind wirkte er, ein Kind, dem jemand angedroht hatte, ihm sein Lieblingsspielzeug wegzunehmen.
»Du hast recht, Renzo. Hier im Pianoro lässt es sich wirklich gut leben, wie Gott in Frankreich.«
Bei diesen Worten lachte Mita laut auf.
»Das hat meine Großmutter auch immer nach dem Essen gesagt.«
»Was hat sie gesagt?« fragte Beniamino aufmunternd.
»Wir haben wie Gott in Frankreich gegessen, sagte sie. Wir haben wirklich wie Gott in Frankreich gegessen«, und dabei streckte sie, kerzengrade und stocksteif vor den anderen stehend, die Brust vor, um Zufriedenheit auszudrücken. Sofort gab es Gelächter und Bemerkungen, die auch Renzo Bardi wie ein warmer Schal umhüllten. Beniamino sah, dass er ein schwaches Lächeln wagte und einen tiefen, befreienden Seufzer ausstieß.
»Ihr habt doch immer am Hungertuch genagt«, warf Malfatti unterdessen bissig ein.
Mitas Miene verfinsterte sich, sie sah Malfatti schief an, und ihr feindseliger Blick ließ
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