Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
Körper der Frau sich unter dem Schutzschild aus Baumwolle, den er ihr geschenkt hatte, langsam entspannte und sie sich zuletzt einer wohligen Ruhe hingab, mit der sie der Nacht entgegensehen konnte.
H AND IN H AND gingen Beniamino und Marcella über die Straße nach Prati, und nur das Knirschen der Kiesel unter ihren Schritten unterbrach die Stille ringsum. Jeder in seine eigenen Gedanken versunken, waren sie wie zwei Inseln, die in der weichen Luft des Sonnenuntergangs schwammen, mit ruhigen Schritten auf einer Landstraße dahintreibend. Dennoch vereinigte sie das Band der Liebe, weit stärker noch als der Händedruck, mit dem sie ihre Körper verbanden. Beide dachten sie über die Zeit nach, darüber, wie seltsam beweglich der Gang der Stunden, die Abfolge der Momente doch war, und über die Versuche der Menschen, Regeln festzusetzen, um die Zeit messen zu können, indem sie die Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge zählten, Uhren und Kalender konsultierten.
Alle Versuche, der Zeit Regelmäßigkeit zu verleihen, scheiterten jedoch an den Gefühlen, die aufeinanderfolgende Ereignisse, Begebenheiten und Gedanken in ihnen hinterließen, denn dieser Wirrwarr entzog sich jeder Regelung. Die wenigen Wochen, die seit der Ankunft im Pianoro vergangen waren, erschienen ihnen wie Monate oder sogar Jahre, und diese Zeit war in einem sehr viel schnelleren Rhythmus verflogen als ihr bedächtiges Gehen auf der Straße, dem ihre Schritte den Takt vorgaben.
So viel war geschehen, seit Rattazzi den Umzug der Irrenanstalt organisiert hatte, und jedes einzelne dieser Ereignisse zog die Zeit zusammen oder dehnte sie aus, verbreitete sich als klebrige Masse oder verglühte im Blitz eines Augenblicks. Die Augenblicke der Liebe zum Beispiel waren Jahrhunderte aus tiefem Atem, weite Wasserflächen, auf denen man sich ohne Eile, ohne Mühen forttragen lassen konnte.
Die Stunden, die sie neben Rattazzis reglosem Körper gewacht hatten, waren Monate, Jahre gewesen, in denen der Kummer sich mit Sorge und Angst vermischt hatte und die Zukunft zu Marmor erstarrt war. Auch konnten die Spiele, bei denen Beniamino lernte, das Leben der Irren frei umherschweifen zu lassen, ebenso ein rasch verfliegender Augenblick sein, der sich in einem Lächeln von Fosco oder im eleganten Rhythmus der von Cavani rezitieren Verse erschöpfte, wie sie, umgekehrt, zu dem langsamen Keuchen aus Mitas stockenden Erinnerungen werden konnten oder zu der Sackgasse, in die der immer mit seinem Gott hadernde Giovanni geriet, oder zu der Geste, die Malfatti tödlich beleidigte und ihn zwang, sich einzukapseln.
Auch zwischen Beniamino und Marcella verlangsamte und beschleunigte sich die Zeit, nahm sich weite Räume aus Lächeln, der Arbeit abgerungen, die sie während des Tages beschäftigte, so dass ein Blick durch das Fenster oder eine Handbewegung zu einer jähen, heißen Flamme im Herzen wurde, die Müdigkeit oder Angst verfliegen ließ. Die Pausen aber, die Stunden, die sie der Nacht stahlen, die Abende, an denen sich, fast wie ein Zauber, Stille über das Haus senkte, und sei es auch nur für wenige Minuten, empfanden sie dagegen wie einen Stillstand der Zeit, wo der Atem leise ging und eine Ruhe herrschte, die geradezu ewig schien, während sie doch gefährdet war wie die Flamme eines Streichholzes im Wind.
Eine so ungewisse und ewige Zeit verbrachten Beniamino und Marcella auf ihrem Weg nach Prati, während sie durch die traumartige Stille schritten. Aus der Vogelperspektive, so wie Fosco sie gesehen hätte, wenn er das Spiel seines Wahnsinns spielte, wären sie wie zwei kleine Boote erschienen und die Schotterstraße wie das Kielwasser ihrer Spur durch das grüne Wiesenmeer der Hügel, das sie und ihre Liebe, ihre Hoffnungen, ihr Leben umgab, während der Krieg nahte.
Wie zwei einsame Boote bewegten sie sich, und auf diesem stillen Weg, beschäftigt mit ihren Gedanken und der Liebe, kamen sie zu der kleinen Kapelle direkt an der Stelle, wo die Straße zu den Hügeln von Prati anstieg.
Als sie eintraten, störte das Geräusch ihrer Schritte die Stille in dem Raum. Mit ihnen drang ein scharfer Lichtstrahl durch die halbgeöffnete Tür, zerteilte den Schatten, in dem vier Bänke und ein Weihwasserbecken standen, und fiel auf die Wand über dem kleinen Altar. Die Strahlen der untergehenden Sonne beleuchteten ein Fresko. Beniamino und Marcella staunten, beeindruckt von der Schönheit des Bildes, der Harmonie seiner Farben und dem Frieden, der von ihm ausging.
Weitere Kostenlose Bücher