Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
Zwei Engel hoben einen Vorhang, hinter dem sich würdevoll eine Mutter, eine Madonna offenbarte, die zärtlich auf ihren schwangeren Leib wies. Eine Hand lag auf ihrem Schoß, wie zum Schutz des ungeborenen Kindes, die andere war auf die Hüfte gestützt.
Beniamino und Marcella blieben stumm stehen, beide überwältigt von dem gleichen Gefühl, welches das Fresko in ihnen auslöste, als wäre diese Erscheinung nur für sie gemalt worden, als wartete sie schon wer weiß wie lange auf sie beide.
Keiner sprach. Nur ihr Händedruck wurde fester, und schließlich drängte sie die Gefühlsbewegung, einander in die Arme zu fallen, als würden sie über diese Entdeckung jubeln und sich gleichzeitig vor ihr schützen wollen. So begriff Beniamino, dass er Vater werden würde, und Marcella spürte, dass sie ein Leben in sich trug, gerade so, als hätten die beiden Engel den Schleier über ihr angehoben.
In Beniaminos Armen gab sie sich ihrer Rührung über diese Offenbarung hin, dem Stolz, die Frucht der Liebe zu bergen, die sie mit Beniamino vereinigte. Er hielt sie jetzt fest umarmt, und in seiner Umarmung hätte sie sich auflösen mögen, um vor allem zu fliehen, was sie beide bedrohte. Von der Wand fiel der Blick einer anderen Frau auf sie, und in dieser erhabenen Gestalt las sie die Verantwortung, die die Erkenntnis mit sich brachte, Mutter zu sein, Ursprung, Schutz von etwas, dessen Form und Schicksal sie nicht kannte, das ihr aber schon in dem Moment, in dem sie seine Existenz begriffen hatte, zu groß und zu schön erschienen war, um in ihr enthalten zu sein.
In den Armen ihres Geliebten an den Blick geklammert, der sie von der Wand fixierte, fühlte Marcella die Hülle ihres Körpers, die fleischliche Materie, die ihr immer die Gewissheit gegeben hatte, als ein reales Wesen in der Welt zu sein, verschwinden, und in diesem Augenblick wünschte sie, sie wäre wie einer der Irren und hätte den Mut, sich mit beiden Beinen fest auf den Boden der Kapelle zu stellen, um dort reglos stehenzubleiben, geschützt von den vier Wänden und dem Blick über dem Altar, der sie bewachte, und so mehrere Monate lang zu warten, dass dieser Keim des Lebens in ihr reifte, weit weg von dem, was draußen war, gleich hinter den drei Stufen, die zur Kapelle hinaufführten.
Auch Beniamino überließ sich dem Strom von Marcellas Wünschen, einem Glücksgefühl, das in ihm explodierte, und einer quälenden Angst um das, was dieses Kind, das sie von nun an vereinte, würde erleiden müssen, wenn es auf die Welt, auf diese Welt kam.
Sie standen noch eine Weile engumschlungen und stellten dabei fest, dass die Elastizität der Zeit ihrem Leben in diesen wenigen Minuten eine wahre Ewigkeit entzogen hatte, denn tatsächlich spürten sie, als sie hinausgingen, deutlich, dass sie sich verändert hatten, als wären Jahre vergangen.
Im Bewusstsein dieses neuen Zustands wanderten sie den Hügel hinunter, und erst als sie das Haus zwischen den Zypressen erblickten, blieb Marcella stehen, nahm Beniaminos Gesicht in ihre Hände und unterbrach das Schweigen, das beide bis jetzt begleitet hatte: »Ich habe Angst«, sagte sie.
Beniamino hätte sie ermutigen wollen, so wie er es nach Rattazzis Tod getan hatte, als die Blicke der Bewohner des Pianoro sich hilfesuchend auf ihn geheftet hatten. Mit dem Mut der Ahnungslosigkeit hatte er sich damals einem Gefühl überlassen, das Rattazzi ihm vererbt hatte. Er hatte sich in verworrene Ideen gestürzt, die der Doktor ihm nie bis in alle Einzelheiten erklärt hatte, Ideen, bei denen es um den Mut ging, mit dem Leben zu spielen, die Karten neu zu mischen, an Träume zu glauben und, wenn nötig, selbst verrückt zu werden.
Gerne hätte er klare, überzeugende Worte gefunden, die Marcella beruhigen, ihre Liebe und das, was ihre Liebe hatte entstehen lassen, schützen konnten, doch dort, wo sie jetzt standen, hörte man bereits die Stimmen der Verrückten, den Lärm von Marzis Lastwagen, der gerade angefahren kam, in der Ferne das Geräusch von Elemiras Hacke, die im Garten arbeitete, und jede einzelne dieser Stimmen, jedes Geräusch, jede Einzelheit dessen, was er sah, brachte Bilder und Erinnerungen, Ideen, Satzfetzen, Farben und Gerüche mit sich, die nichts anderes bedeuteten, als dass sie noch immer dort waren, noch immer lebendig und frei, und all diese Eindrücke waren da, um von ihm angenommen oder weggesperrt zu werden, genauso wie die Ärzte es mit dem Leben von Geisteskranken in einer Irrenanstalt machen
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