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Die Richter des Königs (German Edition)

Die Richter des Königs (German Edition)

Titel: Die Richter des Königs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lessmann
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lassen. Ich fahre aus.«
    »Sehr wohl, Mylady.«
    Amoret ließ sich von Helen beim Umkleiden helfen, ohne sich um die missbilligenden Blicke des Mädchens zu kümmern. Ihre Kutsche kam schnell voran, denn es waren kaum noch Fuhrwerke auf den Straßen. Die wenigen Fußgänger, die unterwegs waren, versuchten, den Kontakt mit anderen Passanten zu vermeiden, indem sie sofort auf die andere Straßenseite wechselten, wenn sie bemerkten, dass ihnen jemand entgegenkam. Dabei hielten sie sich zumeist von der Häuserfront fern, um nicht zufällig auf jemanden zu treffen, der gerade aus einer Tür kam. Jede Besorgung wurde so zu einem Spießrutenlauf, bei dem die Gefahr überall zu lauern schien. Man versuchte, sich gegen die pestilenzschwangeren Ausdünstungen zu schützen, indem man sich magische Amulette um den Hals hängte wie die Arsenikkampfertalismane des Paracelsus, Bezoare oder Täfelchen, auf denen Tierkreiszeichen oder die Buchstaben »Abrakadabra« eingeritzt waren. Goldmünzen aus der Zeit der Königin Elizabeth, die man sich in den Mund steckte, oder mit Arsenik oder Quecksilber gefüllte Säckchen waren ebenfalls sehr beliebt. Amoret sah einige Leute, die sich mit Kräutern gefüllte Pomanderkugeln oder Taschentücher, vermutlich getränkt mit Pestessig, unter die Nase hielten. Andere rauchten Tabak. Amoret hatte sich angewöhnt, Angelikawurzeln zu kauen, wenn sie ausfuhr.
    Viele Häuser standen leer, weil ihre Bewohner aufs Land geflohen waren. Ganze Straßenzüge wirkten wie ausgestorben. Und immer öfter sah man das unheilverkündende rote Kreuz an den Türen befallener Häuser und darunter den Spruch: »Gott, habe Erbarmen mit uns«. Der Anblick dieser im Sterben liegenden Stadt wurde noch gespenstischer durch das unablässige Läuten der Totenglocke, das die Luft erfüllte. Inzwischen starben täglich so viele Menschen an der Pest, dass die Glocken nur noch selten schwiegen.
    Die Machtlosigkeit der Amtsvertreter und der Geistlichen war unübersehbar. Man hatte Fast- und Bettage festgesetzt, die den Zorn Gottes besänftigen sollten. Die verzweifelten Menschen strömten in die Kirchen zu den Gottesdiensten und Andachten und standen dort so eng gedrängt, dass sie einander zwangsläufig ansteckten. Doch die Obrigkeit wagte es nicht, Kirchenbesuche zu verbieten, denn eine Vernachlässigung des Gottesdienstes hätte erst recht den göttlichen Unwillen auf die Stadt gelenkt und zudem den Menschen in ihrer Hilflosigkeit den letzten Trost geraubt. Um den Ausbruch von Chaos und Gesetzlosigkeit zu vermeiden, blieben der Lord Mayor und die Stadträte auf ihrem Posten und versuchten, so weit wie möglich für Ordnung zu sorgen. Die Pestverordnungen mussten durchgesetzt, die Eingeschlossenen mit dem Lebensnotwendigsten versorgt, und das Armengeld, womit diese Ausgaben beglichen wurden, musste eingefordert werden. Sir John Lawrence, der Lord Mayor, der täglich Besucher empfangen musste, hatte sich zu seinem Schutz einen großen Glaskasten bauen lassen, der ihn vor den krankhaften Ausdünstungen der Menschen abschirmte, und darin saß er nun wie eine exotische Pflanze in einem Winterhaus.
    An der Ecke zur Fetter Lane ließ Amoret den Kutscher anhalten, um die seltsame Szene zu beobachten, die sich am Straßenrand abspielte. Zwei zerlumpte Männer hatten eine offensichtlich schwer kranke Frau vom Boden hochgehoben und trugen sie etwa sechzig Yards die Straße entlang, bevor sie sie wieder absetzten und davongingen, ohne sich noch einmal umzusehen.
    »Was hat das zu bedeuten, Robert?«, fragte Amoret verwundert.
    »Die arme Frau hat vermutlich die Pest, Mylady«, erklärte der Kutscher bereitwillig. »Sicher hat der Kirchenvorsteher des Pfarrsprengels diesen beiden armen Teufeln einen Shilling bezahlt, damit sie die Kranke in den anliegenden Sprengel schaffen. Denn sollte sie in seiner Gemeinde sterben, muss er bis zu sieben Shilling für ihre Beerdigung bezahlen. Und der Kirchenpfleger des Nachbarsprengels wird ebenso verfahren, um Kosten zu sparen.«
    »Das ist ja grauenvoll!«, stieß Amoret schockiert hervor.
    »Die Gemeinden sind verarmt, Mylady. Die Reichen, die für das Armengeld aufkommen müssen, sind fast alle geflohen.«
    Den Rest der Fahrt über lehnte sich Amoret in ihrer Kutsche zurück. Sie konnte es nicht länger ertragen, zum Fenster hinauszuschauen. Auf der Paternoster Row angekommen, stieg sie so schnell wie möglich aus und betrat die Chirurgenstube. In einer hinteren Ecke saß der Geselle und saugte an

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