Die Richter des Königs (German Edition)
in Jeremys Handschrift geschrieben: »Kommt sofort her. Ich brauche Eure Hilfe.«
»Wer hat das gebracht?«, fragte Alan.
»Ein Diener in einer Livree«, erwiderte Gwyneth mit einem Schulterzucken. »Er nannte keinen Namen.«
»Anscheinend ein Notfall. Ich werde sofort hingehen.« Alan legte die Hände auf Gwyneths Arme, um ihr einen Abschiedskuss zu geben, doch sie entzog sich ihm energisch.
»Mach es mir doch nicht noch schwerer«, rief sie fast ärgerlich und hastete zur Tür hinaus.
Alan versuchte, seine Ernüchterung zu verdrängen, während er einige Instrumente einpackte und dem Gesellen Anweisungen gab. Dann eilte er zu Jeremys Kammer hinauf, klopfte an die Tür und trat ein.
Am Tisch über ein Buch gebeugt saß Lady St. Clair, die vor einer halben Stunde gekommen war. Sie war gezwungen, sich die Wartezeit mit Lesen zu verkürzen, denn da sie ihre Besuche nicht ankündigte, kam es zuweilen, wie an diesem Tag, vor, dass weder Jeremy noch Breandán im Haus waren.
»Ich bin untröstlich, Madam, aber ich muss Euch allein lassen«, erklärte Alan. »Ich habe gerade eine Nachricht von Pater Blackshaw bekommen, der sich bei Richter Trelawney aufhält. Er wünscht, dass ich sofort zu ihm komme.«
»Hat es einen neuen Anschlag gegeben?«
»Ich denke nicht. Dann hätte er es sicher erwähnt. Vielleicht ist ein Dienstbote erkrankt. Auf jeden Fall muss ich hin. Breandán wird in Kürze von der Besorgung zurückkehren, zu der ich ihn geschickt habe. Ihr müsst bestimmt nicht mehr lange warten.«
Alan wandte sich zum Gehen, doch Amoret rief ihn noch einmal zurück. Mit einem Lächeln trat sie auf ihn zu, nahm ihn in die Arme und küsste ihn auf die Wange. »Ich danke Euch für Euer Verständnis und Eure Hilfe«, sagte sie herzlich. »Ihr seid ein Schatz.«
Alan verließ das Haus mit einem Hochgefühl, das seine Enttäuschung über die erlittene Abweisung erträglicher machte. Während er in seinen dicken Mantel gehüllt die geschäftige Paternoster Row entlangging, träumte er lächelnd von einer intimen Stunde mit Lady St. Clair und malte sich alles genüsslich bis in die kleinste Einzelheit aus.
Es war der Tag der heiligen Luzia, ein trüber Dezembernachmittag. Dunkle graue Wolken türmten sich am Himmel übereinander und bildeten für die Strahlen der schwachen Wintersonne eine undurchdringliche Barriere. Immer wieder sprühte den Passanten ein leichter, nichtsdestotrotz unangenehmer Nieselregen ins Gesicht. Noch hatte die Dämmerung nicht eingesetzt, doch von der nahen Themse stiegen feuchte Nebelschleier auf und hüllten alles ein. Sie vermischten sich mit dem Rauch der Feuer unter den Kesseln der Seifensieder und Färber zu einem dichten Kohlendunst, so dass man an manchen Tagen kaum mehr sehen konnte, wohin man den Fuß setzte. Alan bemerkte plötzlich, dass er in seiner Eile vergessen hatte, eine Laterne mitzunehmen. Die Straßen waren im Allgemeinen nicht beleuchtet, da nur wenige Bürger ihrer Pflicht nachkamen, vor ihren Häusern ein Licht anzubringen. Bisher war der Nebel noch nicht so dicht, dass Alan sich verlaufen hätte, aber die Dämmerung würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Und für einen einzelnen, unbewaffneten Fußgänger war es nicht ungefährlich, des Nachts durch die Londoner Gassen zu wandern.
Ohne dass er sich den Grund erklären konnte, überkam Alan mit einem Mal ein Gefühl des Unbehagens und verdrängte seine süßen Träume. Ein Frösteln wanderte trotz des dicken Wollmantels über seine Haut. Die zärtliche Umarmung, in der er sich in seiner Phantasie gesehen hatte, verblasste vor der unangenehmen Wirklichkeit und ließ ihn enttäuscht zurück.
Vor ihm ragte das steinerne Bollwerk des Ludgate-Bogens auf. Beim Durchqueren des Torgewölbes hatte Alan das Gefühl, von einem düsteren Abgrund verschlungen zu werden. Auch als er das Tor hinter sich gelassen hatte und die Fleet-Brücke überquerte, gelang es ihm nicht, den Eindruck der Beklemmung abzuschütteln. Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte, um sein Ziel, das Haus des Richters auf der Chancery Lane, so schnell wie möglich zu erreichen.
Auf der Fleet Street herrschte ein maßloses Gedränge. Jeder versuchte, zügig nach Hause in die warme Stube zu kommen, bevor die Dämmerung hereinbrach. Rücksichtslos erzwangen sich schwer beladene Karren Platz und drängten auch schon mal die Kutsche eines Adeligen an den Straßenrand. Das Gezeter der aufgebrachten Parteien konnte sich endlos hinziehen und den
Weitere Kostenlose Bücher