Die Risikoluege
beseitigbar sind, sieht es bei einem Reaktorunfall nun doch anders aus. Der Unterschied zu allen anderen Unfällen mit Katastrophencharakter besteht vor allem darin, dass der durch den havarierten Reaktor entstandene Schaden bleibt, dass man die mit ihm für Mensch und Umwelt verbundenen Folgen nicht mehr los wird, dass diese mit der Havarie eigentlich erst beginnen. Der Unfall ist ein Anfang ohne ein Ende.
Und dies hätte man aus Tschernobyl eigentlich bereits lernen können: dass es aus einer Reaktorhavarie bezüglich der Folgen für Mensch und Umwelt kein neues Lernen gibt. Alles war bekannt, darin liegt die eigentliche Tragödie.
Sprechen wir im Zusammenhang mit Restrisiko auch von den so viel diskutierten Grenzwerten, denn auch sie gaben nach Tschernobyl und Fukushima Anlass zu Missverständnissen und verwirren auch bei andern Gelegenheiten immer wieder.
Von vielen Dingen, die wir tun, die uns umgeben oder denen wir ausgesetzt sind, und deren Unbedenklichkeit sich nur unzureichend abschätzen lässt, wird vorsorglich
davon ausgegangen, dass schon sehr geringe Aufnahmemengen ein potenzielles Risiko darstellen, ohne dass dieses konkret belegt oder quantitativ beziffert werden könnte. Hierfür benötigen wir den Sachverstand von Experten, die uns sagen müssen, ob sie eine bestimmte Gefahr für vertret- und zumutbar – also für akzeptabel – halten oder nicht. Ihre Abwägung äußert sich in Form von Toleranz-und Grenzwerten, die zwar auch auf Fakten, aber letztlich auf Abschätzungen beruhen. Solche fiktiven Grenzwerte garantieren natürlich keinen absoluten Schutz, sie stellen nur den bestmöglichen Schätzwert dar. Die Überschreitung einer aus Vorsorgegründen festgelegten Grenze bedeutet also nicht zwangsläufig so etwas wie das Überschreiten einer Grenze von sicher nach gefährlich.
Wie verwirrend der Umgang mit Grenzwerten sein kann, demonstrierte auch nach Fukushima die EU-Kommission: Die für die EU geltenden Grenzwerte für die Radioaktivität japanischer Importprodukte wurden am 25. März per Eilverordnung nicht herabgestuft, sondern heraufgesetzt, also nicht verschärft, sondern abgeschwächt, was später wieder rückgängig gemacht wurde. Und in Japan hat das Erziehungsministerium die maximale Strahlendosis, der Kinder in der Schule und im Kindergarten pro Stunde ausgesetzt sein dürfen, auf 3,8 Mikrosievert hoch gesetzt, was allerdings noch im Rahmen der Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission für Strahlenunfälle liegt.
Wie weit so ein Grenzwert von der Realität abweichen kann, zeigt das Beispiel des Ausbruchs des Vulkans Eyjafjallajökull 2010 in Island. Seine gigantischen Aschewolken brachten den europäischen Flugverkehr teilweise völlig zum Erliegen. Der wirtschaftliche Schaden war enorm,
etwa 3,5 Milliarden Euro weltweit, mehr als eine Milliarde alleine für die Fluggesellschaften. Als es 2011 zu einem ähnlichen Vulkanausbruch auf Island kam, lagen Grenzwerte vor, die auf Messungen beruhten, die das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit einem Spezialflugzeug ein Jahr zuvor in der Aschewolke vorgenommen hatte. Nach diesen lag die Aschekonzentration bei allen Messflügen weit unter dem Grenzwert von zwei Milligramm, der 2010 aufgrund von Expertenmeinungen festgelegt worden war. Was nichts anderes bedeutet, als dass bei Zugrundelegung der neuen auf Messwerten beruhenden Grenzwerte 2010 kein einziger Linienflug hätte ausfallen müssen.
Wenn sich der Bürger also fragt, wieso Grenzwerte mal eben nach oben oder unten verschoben werden können, dann muss man ihm sagen, weil sie fiktiv sind und auch wirtschaftlichen Einflüssen unterliegen. Deswegen muss immer wieder betont werden, dass Grenzwerte zwar nicht willkürlich festgelegt, sondern aufgrund vorliegender Erfahrungen von Experten empfohlen werden, dass aber die endgültige Festlegung eine politische ist.
Unser ganzes Leben, machen wir uns das klar, besteht aus Experimenten. Jeder von uns nimmt an solchen Experimenten teil, ob man nun ein Auto besteigt, ein Arzneimittel einnimmt oder sich in der Sonne bräunen lässt. Und aus dem, was passiert – dem Autounfall, der Arzneimittelnebenwirkung, dem Hautkrebs – kann man etwas lernen.
Experimente allerdings, aus denen wir – wie bei der Nutzung der Kernenergie – nichts weiter lernen können als das, was wir ohnehin schon wissen, von denen sollten wir, auch wenn sehr selten etwas dabei passiert, die Finger lassen.
Wenn wir uns also darüber im
Weitere Kostenlose Bücher