Die Risikoluege
über scheinbar unerhebliche Zeitunterschiede ist aber für Ingenieure, Tepco und andere Betreiberfirmen von elementarer Bedeutung. Denn je früher der GAU begann, desto wahrscheinlicher war hierfür das Erdbeben verantwortlich, je später, der Tsunami. Damit Tepco an seiner Position festhalten konnte, seine Kraftwerke seien gegen Gefahren geschützt, für die sie ausgelegt waren – vor allem Erdbeben -, wurde der Tsunami angeschuldigt, gegen den Tepco von Beginn an zugegeben hatte, nicht genügend gerüstet gewesen zu sein. Es brauchte zwei Monate, bis die Betreibergesellschaft und die japanische Regierung die neuen Erkenntnisse zugaben. Und es ist bis heute nicht klar, ob beide diesen Sachverhalt nicht gekannt oder gekannt aber bewusst falsch dargestellt haben.
Anfang November 2011 wurde In Reaktor 2 Xenon 133 und 135, das in wenigen Stunden bis Tagen zerfällt, als Zeichen von »frischen« Kernspaltungsprozessen gefunden. Xenon in großen Mengen wurde auch unmittelbar nach der Reaktorhavarie gemessen. Ein internationales Forscherteam ist nun nach Auswertung der Messergebnisse zu dem Ergebnis gekommen, dass Xenon schon vor dem Tsunami aufgetreten war, dass also entgegen offizieller Darstellungen das Erdbeben schon vor dem Tsunami mindestens einen Reaktor beschädigt hatte.
Wusste also Tepco schon kurz nach dem Erdbeben von der Kernschmelze und hat die Verstrahlung der Arbeiter und des Meerwassers in Kauf genommen? Das zumindest
behauptet Greenpeace und stützt sich dabei auf eine eigene Studie. Zahlreiche andere unabhängige Experten waren zu ähnlichen Vermutungen gekommen. Auch in der Studie des britischen Ingenieurs John Large heißt es, dass Tepco innerhalb der ersten 24 Stunden des Unfalls direkten Zugang zu Daten hatte, welche die rasch ansteigenden Temperaturen im Druckbehälter sowie eine Kernschmelze offensichtlich gemacht hätten.
Später machte dann auch Yukiya Amano, der Chef der IAEA, die Betreiberfirma Tepco für die Havarie der Reaktoren verantwortlich. Bis dahin hatte auch er die Position vertreten, der Unfall sei durch eine nicht vorhersehbare Naturkatastrophe ausgelöst worden, nicht durch menschliches Versagen oder Konstruktionsfehler. »Im Nachhinein betrachtet«, stellte er fest, »waren die Sicherheitsmaßnahmen, die der Betreiber ergriffen hat, nicht ausreichend, um den Unfall zu verhindern.«
Nicht für das Erdbeben und den Tsunami, wohl aber für die Nuklearkatastrophe tragen die Betreiberfirma Tepco und die japanische Regierung und deren Vorgängerin die volle Verantwortung. Tepco hat, was viele wussten, in der Sicherheit geschlampt, bei Kontrollen betrogen und sich gegen Verbesserungen der Sicherheit gewehrt. Kühlpumpen und Generatoren sollen jahrelang nicht kontrolliert und Wartungsprotokolle gefälscht worden sein, sodass es durchaus möglich ist, dass die Notstromaggregate bereits vor dem Tsunami schon nicht mehr intakt waren.
Noch lange nach der Katastrophe hat die Regierung Tepco selbst weitermachen lassen und in täglichen Bulletins das veröffentlicht, was ihr die Betreiberfirma an Informationen zukommen ließ. Auch hat sie nicht ausländische Hilfe angefordert, wie dies bei einem derartigen Ereignis mit
der IAEA als internationale Hilfsaktion vereinbart war. Aber die Bevölkerung verharrte in stoischer Ruhe und vertraute den offiziellen Verlautbarungen, weil man ihr stets versichert hatte, dass ihre AKWs sicher seien.
Als Tepco erst zwei Wochen nach dem GAU einen Messfehler und die 100 000-fach erhöhte Strahlung am Reaktorblock 2 eingestand, versprach der Regierungssprecher, dass man die Öffentlichkeit jetzt aufrichtiger (!) und detaillierter über den Unfall informieren werde. Welch ein Versprechen!
Wenn auch nicht in technischer, so doch wenigstens in kommunikativer Hinsicht hätten die Japaner aus Tschernobyl lernen können und müssen. Aber sie haben es nicht: die Regierung nicht, die Aufsichtbehörde nicht, und der Betreiber nicht. Das Informationsverhalten war nicht nur dilettantisch, es war kriminell. Immer wieder wurde die Situation beschönigt, wurden bewusst falsche Meldungen herausgegeben.
Fukushima machte das Wort »Restrisiko« zum Wort des Jahres. Jeder nahm es in den Mund, und jeder verstand darunter etwas anderes. Sascha Adamek meint in seinem Buch Die Atom-Lüge: »Es gibt Worte, die lügen, sobald sie gedruckt oder ausgesprochen werden«, und er rechnet auch das Wort Restrisiko zu dieser Rubrik.
Vielleicht ist das Wort selbst gar kein Lügenwort,
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