Die Rollbahn
die Fabrik umzog. In ihrer Hand knisterte das Papier, die Verurteilung zur Arbeit für Führer und Großdeutschland. Für den Endsieg.
Berlin. Wilmersdorfer Straße 10.
Auch dort würde ein SD-Mann sitzen, der ihre Beine und Brüste begutachtete und seinen Blick auf ihrem Schoß ruhen ließ. Auch dort würde es heißen: Wenn Sie wollen, können Sie … Wenn Sie wollen …
Ekel stieg in ihr empor. Er würgte im Hals und gerbte die Mundhöhle mit Galle.
Ich werde es Fritz schreiben, nahm sie sich vor. Ich werde ihm alles schreiben. Während er kämpft im guten Glauben an das Gute, will man in der Heimat seine Braut in die Betten zwingen. Die Heimat verrät dich, Fritz, wollte sie schreiben. Du kämpfst für ein paar Bonzen, die aus Deutschland ein Bordell machen und Frauen sammeln wie ein Meisterjäger die Gehörne. Das ist das Ideal, für das ihr fallen sollt, das ist die neue Zeit, die ihr erkämpfen sollt.
Sie schrieb es nicht. Sie wußte, daß es ihren Kopf gekostet hätte. Wehrkraftzersetzung … Todesstrafe … Ein Schnellverfahren … Jede Woche wurden sie hingerichtet … Zwanzig … dreißig … fünfzig … Man veröffentlichte schon gar nicht mehr die Namen. Die Scharfrichter wurden Schwerstarbeiter.
Langsam ging sie durch die Straßen Königsbergs zurück zu ihrer Wohnung. Was würde der Vater sagen? Ertrug er auch noch diesen Schlag?
Sie hatte Angst vor dem Blick des Vaters, vor diesem alles wissenden Blick, der trotz aller Weisheit leer war, leer und hilflos in dem Bewußtsein, ausgeliefert zu sein wie ein Lamm dem Schlächter.
Und plötzlich weinte sie. Weinend ging sie durch die Straßen. Die anderen Menschen, denen sie begegnete, sahen weg. Tränen waren etwas Alltägliches geworden.
In seinem Erdbunker hockte Oberleutnant Faber und telefonierte mit Leutnant Vogel. Unteroffizier Ewald Brösel, die ›Semmel der Kompanie‹ und Kompanietruppführer, saß mit dem Rücken gegen die Erdverschalung gelehnt und rauchte eine selbstgedrehte Zigarette. Er las einen Brief, den die Essenträger in der vergangenen Nacht mit herausgebracht hatten, zum achtenmal, und immer war es wieder neu, was er las.
Es war ein Brief seiner Mutter. Sie teilte ihm mit, daß nun auch Vater eingezogen worden war. Zu den Landesschützen. Ewald Brösel konnte das nicht begreifen und las deshalb den Brief immer wieder durch. Der Vater eingezogen. Mit über 50 Jahren! Hatte man das nötig? Mußte man den Krieg schon mit den Alten gewinnen? Oder mit den Kindern, die die Stammkompanien hinaus als Ersatz schickten? Siebzehnjährige Bürschchen, die beim ersten Heulen der Stalinorgeln auf die Erde fielen und in den Boden schrien.
»Wie stellen Sie sich das vor?« fragte Oberleutnant Faber ins Telefon. »Hier ist alles friedlich. Wenn die sibirischen Scharfschützen nicht wären, nähmen wir hier ein Sonnenbad.«
Die Stimme Vogels schnarrte im Apparat. Jetzt hat er wieder sein ›markantes Gesicht‹ dachte Faber. Er blickte auf Brösel, aber dieser war versunken in das Schreiben seiner Mutter und nahm keinen Anteil an seiner Umwelt.
»Das Regiment hat uns befohlen, Gefangene einzubringen«, sagte Vogel dienstlich knapp. »Ich soll Ihnen vom Kommandeur durchgeben, daß die 5. Kompanie heute nacht einen Stoßtrupp unternehmen soll, um mindestens einen Gefangenen zu machen. Wir müssen wissen, was auf der Gegenseite vor sich geht. Wir haben den Verdacht, daß der Iwan des Nachts aufmarschiert und die große Sommeroffensive vorbereitet. Aber wir können uns auf Vermutungen nicht verlassen … wir brauchen Gewißheit. In jedem Bataillonsabschnitt wird ein Stoßtrupp gemacht, um Gefangene einzubringen.«
»Habe verstanden.« Faber sah an die mit Balken abgestützte Decke. »Es wird nicht ohne Verluste abgehen.«
»Ein Gefangener ist uns jetzt wichtiger als zehn lebende Deutsche mehr oder weniger.«
»Sie sind ein Gemütsmensch, Vogel«, sagte Faber. Sein Gesicht war hart. »Was sagt der Kommandeur dazu?«
»Herr Major Schneider kommt in der Nacht selbst hinaus zu Ihnen.«
»Und Sie auch, Vogel?«
»Ich glaube.« Die Antwort kam zögernd. Faber grinste.
»Hoffentlich erwacht dann der Russe aus seiner Lethargie und empfängt den deutschen Helden Vogel gebührend mit Bomben und Granaten.«
»Ende«, sagte Vogel grob und hängte ein.
Brösel hatte den Brief durchgelesen und steckte ihn wieder in seine Brusttasche. Er sah Faber sinnend neben dem Telefon sitzen.
»Wieder dicke Luft?«
»Machen Sie sich fertig. Wir gehen zu den
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