Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
von 136 noch immer agil und eloquent, stand als Hauptredner auf der Liste, wurde aber schon bald durch zwei Präsidentschaftskandidaten der GOP für 1996 in den Hintergrund gedrängt: Senator Bob Dole aus Kansas und Gouverneur Pete Wilson aus Kalifornien, der formell als Moderator der Veranstaltung fungierte und seine Umfragewerte in den Keller stürzen sah, als Dole es irgendwie schaffte, sich an die dritte Stelle im Ablaufplan zu drängen und dann mit einer so schamlosen und von Eigenlob strotzenden Grabrede aufwartete, dass er zum Schluss sogar selbst in Tränen ausbrach.
Doles Aktienkurs stieg raketengleich in die Höhe und verschaffte ihm eine frühe Spitzenposition als GOP-Kandidat für 1996. Wilson, der als Nächster sprach, hörte sich an wie ein Engelbert-Humperdinck-Imitator und wird wahrscheinlich nicht einmal zum Gouverneur von Kalifornien wiedergewählt.
Die Historiker wurden wirkungsvoll repräsentiert durch den Sprecher Nummer zwei, Henry Kissinger, Nixons Außenminister und persönlich ein eifernder Revisionist, der so manche Rechnung zu begleichen hatte. Er prägte die Stimmung des Tages mit seinem rührseligen und in grandioser Selbstbeweihräucherung schwelgenden Porträt Nixons. Darin schildert er ihn als noch frommer als seine Mutter und einen gottbegnadeten Präsidenten, der sich ungeheure Verdienste erworben habe – die jedoch zum größten Teil der Arbeit zu verdanken waren, die er im Hintergrund geleistet habe. Kissinger war auf einer ausgedehnten Publicitytour nach Kalifornien gekommen, um sein neues Buch über Diplomatie, Genie, Stalin, H. P. Lovecraft und andere Geistesgrö ßen unserer Zeit, einschließlich seiner selbst und Richard Nixons, vorzustellen.
Kissinger war nur einer der vielen Historiker, die plötzlich auf die Idee kamen, in Nixon mehr zu sehen als die Summe seiner armseligen Teile. Er schien sagen zu wollen, dass die Geschichte Nixon keine Absolution erteilen musste, weil er es bereits selbst getan hat, und zwar in einem massiven Willensakt, der von wahnwitziger Arroganz getragen war und ihn schon jetzt unter die ganz Großen einreiht, zusammen mit anderen Nietzsche’schen Supermännern wie Hitler, Jesus, Bismarck und dem japanischen Kaiser Hirohito. Die Revisionisten haben Nixon auf den Status eines amerikanischen Caesar katapultiert und behaupten, wenn die definitive Geschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben werde, könne, was Größe und Format beträfe, kein anderer Präsident Nixon das Wasser reichen. »Er wird FDR und Truman zu Winzlingen degradieren«, wie ein Gelehrter der Duke University es ausdrückte.
Das war natürlich alles dummes Gewäsch. Nixon war genauso wenig ein Heiliger, wie er ein großer Präsident war. Er glich eher Sammy Glick als Winston Churchill. Er war ein billiger Gauner und ein gnadenloser Kriegsverbrecher, der in Laos und Kambodscha mehr Menschen zu Tode bombte, als die U.S. Army im gesamten Zweiten Weltkrieg verlor, und er leugnete es bis zum Tag seines Todes. Als Studenten der Kent State University in Ohio gegen die Bombenangriffe protestierten, sorgte er durch Manipulation dafür, dass sie von der Nationalgarde angegriffen und mit scharfer Munition beschossen wurden.
Manche Leute werden sagen, dass Wörter wie Abschaum und durch und durch korrupt im objektiven Journalismus fehl am Platze sind – was durchaus stimmt. Aber diese Leute lassen etwas sehr Wesentliches außer Acht: Es waren die immanenten Schwachpunkte des Objektivitätsdogmas und seiner Regeln, welche überhaupt erst ermöglichten, dass Nixon sich wie eine Schlange ins Weiße Haus winden konnte. Auf dem Papier machte er einen so guten Eindruck, dass man ihn fast unbesehen hätte wählen können. Er wirkte so uramerikanisch und so sehr wie Horatio Alger, dass es ihm gelang, durch die Maschen des objektiven Journalismus zu schlüpfen. Man musste zur Subjektivität wechseln, um Nixon klar zu erkennen, und dann war der Schock äußerst schmerzhaft.
Nixons meteorhafter Aufstieg aus der Schlange der Arbeitslosen auf den Sessel des Vizepräsidenten in sechs kurzen Jahren wäre niemals geglückt, wenn das Fernsehen zehn Jahre früher auf den Plan getreten wäre. Mit seiner schnulzigen »Mein Hund Checkers«-Rede kam er 1952 nur deswegen durch, weil die meisten Wähler sie im Radio hörten oder sie in den Schlagzeilen ihrer republikanischen Lokalzeitung nachlasen. Als Nixon schließlich während der Debatten zur Präsidentschaftswahl 1960 leibhaftig vor die Fernsehkameras
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