Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
schließlich »den Senator gnadenlos durch Zwischenrufe gestört«, als der Zug in Miami eingelaufen war, und Muskie auf der Dienstwagenplattform die Rede halten wollte, die zum Höhepunkt seiner triumphalen »Whistle-Stop«-Tour werden sollte.
In dieser Situation hat dann wohl – laut veröffentlichten Presse berichten und inoffiziellen Aussagen – mein angeblicher Freund, der sich »Peter Sheridan« nannte, seine Aktion derart rücksichtslos und übertrieben durchgezogen, dass Senator Muskie »seine Ausführungen abbrach«.
Als der »Sunshine Special« in Miami einfuhr, sprang »Sheridan« vorzeitig ab und nahm auf den Gleisen direkt unter Mus kies Dienstwagenplattform Aufstellung, um von dort aus während der folgenden halben Stunde dem Senator höllisch zuzusetzen – zusammen mit Jerry Rubin, der ebenfalls auf dem Bahnhof erschien, um Muskie zu fragen, was ihn veranlasst hatte, plötzlich den Vietnamkrieg nicht mehr zu befürworten.
Rubin hatte sich bereits seit einigen Wochen in Miami aufgehalten und war häufig bei lokalen Fernsehstationen aufgetreten, um warnend anzukündigen, dass sich im Juli »zehntausend nackte Hippies« unter die Besucher der Democratic National Convention in Miami Beach mischen würden. »Wir werden zum Convention Center marschieren«, verkündete er. »Aber es wird nicht zu Gewalttätigkeiten kommen – zumindest nicht von unserer Seite.«
Gefragt, warum er sich in Florida aufhielte, antwortete Rubin, er habe beschlossen, »wegen des Klimas herzuziehen«, und sich zur Wahl in Florida registrieren lassen – als Republikaner. Obwohl die Angehörigen von Muskies Wahlkampfstab perfiderweise das Gegenteil unterstellten, erkannte Sheridan Jerry Rubin gar nicht; ich jedenfalls hatte Jerry seit dem »Counter Inaugural Ball« nicht mehr gesehen, der als Gegendemonstration zu Nixons Amtseinführung 1969 stattfand.
Als Rubin an jenem Samstagnachmittag auf dem Bahnhof erschien, um Muskie zu behelligen, war der Senator aus Maine vermutlich der Einzige in der Menschenmenge (abgesehen von Sheridan), der nicht wusste, wen er vor sich hatte. Seine Reaktion auf Rubins ersten Zwischenruf war: »Halten Sie den Mund, junger Mann – jetzt rede ich.«
»Sie sind keinen verdammten Deut besser als Nixon«, rief Rubin zurück …
… und wenn man den gesammelten Pressereportagen und dem Augenzeugenbericht Monte Chittys vom Alligator der University of Florida glauben darf, war das der Moment, als Muskie das Gleichgewicht zu verlieren und von der Plattform zu fallen drohte.
Laut Chitty hatte »dieser Boohoo, der auf den Gleisen stand, nach oben gegriffen und Muskies Hosenbein zu packen bekommen, wobei er gleichzeitig ein leeres Martiniglas, das er in der anderen Hand hielt, zwischen die Gitterstäbe der Dienstwagenplattform schob und schwenkte. Dazu schrie er gellend: ›Schieb deinen verlogenen Arsch nach drinnen und mach mir noch einen Drink, du nichtsnutziger alter Furz!‹«
»Es war echt peinlich«, berichtete Chitty mir später am Telefon. »Der Boohoo griff immer wieder nach oben, packte Muskies Bein und forderte lauthals mehr Gin … Muskie gab sich alle Mühe, ihn zu ignorieren, aber der Boohoo ließ nicht locker, und nach einer Weile wurde es so schlimm, dass sogar Rubin sich zurückzog.«
»Der Boohoo« war natürlich derselbe gemeingefährliche Trunkenbold, der seit Palm Beach die Leute in Muskies Zug terrorisiert hatte und immer noch eine Pressemarke trug, auf der »Hunter S. Thompson – Rolling Stone « stand.
Chitty und ich hatten ihn in der Nacht zuvor kennengelernt, und zwar gegen halb drei in der Lobby des Ramada Inn, wo die Presse einquartiert war. Wir wollten gerade einen Sandwich-La den suchen, weil wir leicht berauscht und schwer hungrig waren … und als wir an der Rezeption vorbeikamen, stand dort ein hünenhaftes Ungetüm mit irrem Blick, das den Nachtportier anblaffte: »Diese ganze Hühnerkacke hier« und »nichts als Schwuchteln in diesem Laden, die Muskie in den Arsch kriechen« und »Scheiße, wo kann man in dieser Stadt noch hingehen, wenn man ein bisschen Spaß haben will?« Eine derartige Szene hätte mich normalerweise nicht interessiert, aber die hier hatte etwas ganz Spezielles – die irre Art, wie dieser Mann sprach. Ich hörte aufmerksam hin, und dann erkannte ich Neal Cassidys Redeschwall, seinen Speed-Alk-Acid-Rap – eine wilde Mischung aus Drohung, Wahnwitz, Genie und zerhackten Assoziationsketten, die im Hirn eines jeden Zuhörers das reine Chaos
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