Die Romanow-Prophezeiung
noch, wie ihr Amis damals bei jeder Ausreise gezittert habt, ob wir euch überhaupt noch mal rauslassen. Und jetzt gehören wir praktisch euch.«
»So ändern sich die Zeiten. Wer sich nicht anpasst, bleibt auf der Strecke. Sie wollen doch mitspielen, oder? Dann tun Sie’s. Aber das heißt gehorchen.«
»Machen Sie sich um mich mal keine Gedanken, Herr Anwalt. Aber was wird aus Ihrem Problem mit diesem Lord?«
»Das ist jetzt nicht mehr Ihre Sache. Mit Lord werde ich schon fertig.«
5
15.35 Uhr
Lord war wieder im russischen Archiv, einem düsteren Granitgebäude, das einst als Institut für Marxismus-Leninismus gedient hatte. Nun war es das »Zentrum für die Aufbewahrung und das Studium von Dokumenten der Zeitgeschichte« und als solches ein weiterer Beleg für die russische Neigung zu ebenso umständlichen wie überflüssigen Titeln.
Bei seinem ersten Besuch hatte er verblüfft feststellen müssen, dass auf dem Giebelfeld vor dem Haupteingang noch immer Bildnisse von Marx, Engels und Lenin standen und in großen Lettern der Aufruf VORWÄRTS ZUM SIEG DES KOMMUNISMUS prangte. Ansonsten hatte man landesweit – in jeder Stadt, jeder Straße und jedem Gebäude – alles, was an die Sowjetzeit erinnerte, beseitigt und durch den doppelköpfigen Adler ersetzt, der dreihundert Jahre lang für die Romanow-Dynastie gestanden hatte. Die Leninstatue aus rotem Granit war, wie man ihm erklärt hatte, eine der letzten noch verbliebenen in ganz Russland.
Nach einer heißen Dusche und einem weiteren Wodka hatte er sich wieder einigermaßen beruhigt. Er trug den Ersatzanzug, den er aus Atlanta mitgebracht hatte, Anthrazit mit einem dezenten Streifenmuster. Für die hektischen Wochen, die vor ihm lagen, reichte ein einziger Anzug allerdings nicht, und so würde er in den nächsten Tagen wohl in einem russischen Geschäft einen weiteren kaufen müssen.
Vor dem Niedergang des Kommunismus hatte man das Archiv als viel zu ketzerisch erachtet, um es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen; nur die strammsten Kommunisten hatten Zutritt gehabt. Und noch immer durfte es längst nicht jeder nutzen. Warum dem so war, sollte Lord erst später begreifen. Auf den Regalen standen überwiegend mehr oder weniger uninteressante persönliche Dokumente – Bücher, Briefe, Tagebücher, Regierungsakten und anderes unveröffentlichtes Material, harmlos und ohne jede historische Bedeutung. Zu allem Überfluss gab es keinerlei Register, sondern lediglich eine grobe Einteilung nach Jahr, Autor oder geografischer Herkunft – und zwar derart chaotisch, als wolle man die Benutzer eher verwirren denn auf den richtigen Weg führen. Anscheinend wollte niemand, dass Licht ins Dunkel der Geschichte gebracht wurde.
Und es gab kaum jemanden, der behilflich sein konnte.
Die Archivare waren Überbleibsel aus dem Sowjetregime und somit Teil der Parteihierarchie, die einst Privilegien genossen hatte, von denen der gewöhnliche Moskauer kaum zu träumen gewagt hätte. Und obwohl die Partei nicht mehr existierte, hatte sich hier ein Kader loyaler ältlicher Frauen gehalten, von denen viele, wie Lord annahm, am liebsten eine Rückkehr zur totalitären Ordnung gesehen hätten. Ihr Mangel an Hilfsbereitschaft war auch der Grund gewesen, warum er Artemy Bely um Unterstützung gebeten hatte, und so hatte er in den letzten paar Tagen mehr erreicht als in den Wochen zuvor.
Nur ein paar wenige Menschen bewegten sich zwischen den Metallregalen hin und her. Die meisten Akten, insbesondere die über Lenin, waren einst in unterirdischen Gewölben hinter Stahltüren gesichert gewesen. Erst Jelzin hatte Schluss gemacht mit dieser Heimlichtuerei und angeordnet, alles nach oben zu schaffen und das Gebäude auch Forschern und Journalisten zugänglich zu machen.
Aber nicht unbegrenzt.
Ein großer Teil blieb weiter unter Verschluss – die so genannten »schutzwürdigen Akten«, die weiterhin als streng geheim galten. Lords Mitgliedschaft in der Zarenkommission wog jedoch schwerer als alle vermeintlichen Staatsgeheimnisse von früher. Der Ausweis, den Hayes ihm beschafft hatte, gestattete ihm zu suchen, wo immer er es für erforderlich hielt, auch in den »schutzwürdigen Akten«.
Er setzte sich an den für ihn reservierten Tisch und zwang sein Gehirn, sich auf die vor ihm ausgebreiteten Seiten zu konzentrieren. Seine Aufgabe bestand darin, Stefan Baklanows Anspruch auf den Zarenthron zu untermauern. Baklanow, ein gebürtiger Romanow, war der führende Kandidat der
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