Die Romanow-Prophezeiung
hinter dem Hauptaltar, und die Messdiener hatten alle Hände voll damit zu tun, das Heiligtum zu schließen.
Sie folgten dem Priester in einen unterirdischen Raum. Man hatte ihnen mitgeteilt, das Treffen werde in der Krypta stattfinden, wo etliche Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche bestattet lagen. Wände und Boden des Gewölbes waren mit hellgrauem Marmor verkleidet. Ein eiserner Kerzenleuchter warf ein schwaches Licht auf die Gewölbedecke. Goldene Kreuze, eiserne Kandelaber und gemalte Ikonen schmückten die kunstvoll verzierten Gräber.
Der Mann, der am hintersten Grab kniete, war mindestens siebzig Jahre alt. Büschel dichten grauen Haares sprossen aus seinem schmalen Kopf. Die untere Hälfte seines rotbackigen Gesichts war mit einem verfilzten, dichten Vollbart bedeckt. An einem Ohr trug er ein Hörgerät, und seine zum Gebet gefalteten Hände waren mit Altersflecken übersät. Hayes hatte schon Fotos von diesem Mann gesehen: Seiner Heiligkeit Patriarch Adrian, dem apostolischen Oberhaupt der tausendjährigen russisch-orthodoxen Kirche.
Ihr Begleiter ließ sie allein und zog sich wieder in die Kathedrale zurück.
Oben wurde hörbar eine Tür geschlossen.
Der Patriarch bekreuzigte sich und stand auf. »Meine Herren, wie schön, dass Sie gekommen sind.« Seine Stimme war tief und rau.
Lenin stellte sich und Hayes vor.
»Ich habe schon von Ihnen gehört, General Ostanowitsch. Wohl informierte Berater legen mir nahe, mir anzuhören, was Sie vorzuschlagen haben, und mir dann eine Meinung zu bilden.«
»Der Treffpunkt ist gut gewählt«, bemerkte Lenin.
»Ja, ich dachte, hier in der Krypta wäre der sicherste Ort für unsere Unterhaltung. Hier sind wir ungestört. Mutter Erde wird uns vor neugierigen Ohren schützen. Und vielleicht verhelfen mir die Seelen all der bedeutenden Männer, die hier bestattet sind – meiner Vorgänger –, dazu, den richtigen Weg zu finden.«
Hayes ließ sich von dieser Erklärung nicht narren. Der Vorschlag, den sie zu unterbreiten hatten, war so geartet, dass ein Mann in Adrians Position es sich gar nicht leisten konnte, ihn publik werden zu lassen. Es war eine Sache, hinterher davon zu profitieren, aber eine ganz andere, offen an einer verräterischen Verschwörung teilzunehmen – insbesondere für einen Mann, der eigentlich über der Politik stehen sollte.
»Ich frage mich, meine Herren, weshalb ich auch nur über Ihren Vorschlag nachdenken sollte. Seit dem Ende der Sowjetunion hat meine Kirche eine beispiellose Wiederbelebung erfahren, und nun gibt es für uns keine Verfolgung und keine Beschränkungen mehr. Wir haben Zehntausende neuer Mitglieder getauft, und jeden Tag werden neue Kirchen eröffnet. Bald schon werden wir wieder auf demselben Stand sein wie vor dem Kommunismus.«
»Aber Sie könnten noch sehr viel mehr erreichen«, entgegnete Lenin.
Die Augen des alten Mannes leuchteten auf wie Kohlen in einem erlöschenden Feuer. »Sie machen mich neugierig. Bitte erläutern Sie das näher.«
»Ein Bündnis mit uns wird Ihnen Einfluss auf den neuen Zaren sichern.«
»Aber jeder Zar wird doch ohnehin mit der Kirche zusammenarbeiten müssen. Darauf würde das Volk in jedem Fall bestehen.«
»Wir leben in einem neuen Zeitalter, Patriarch. Heute können negative Schlagzeilen mehr Schaden anrichten, als es eine noch so repressive Polizeimacht jemals vermochte. Denken Sie darüber nach. Die Menschen nagen am Hungertuch, aber die Kirche baut weiterhin vergoldete Monumente. Die Priester stolzieren in aufwändig bestickten Gewändern herum und lamentieren zugleich, wenn die Gläubigen ihre Gemeinden nicht mit angemessenen Geldbeträgen unterstützen. All die Unterstützung, die Sie im Augenblick noch genießen, könnte durch eine gezielte Veröffentlichung von Skandalen untergraben werden. Einige der Mitglieder unserer Vereinigung haben die wichtigsten Medien – Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen – unter ihrer Kontrolle, und mit einer solchen Macht lässt sich viel erreichen.«
»Ich bin schockiert, dass ein Mann Ihres Ranges solche Drohungen äußert, General.« Das war eine sehr scharfe Erwiderung, wenn auch äußerlich ruhig vorgebracht.
Lenin wirkte nicht sonderlich beeindruckt von dem Tadel. »Es sind harte Zeiten, Patriarch. Es steht viel auf dem Spiel. Die Offiziere bekommen beim Militär kaum genug, um sich selbst über die Runden zu bringen, von ihren Familien ganz zu schweigen. Es gibt Invaliden und schwer behinderte Veteranen, die keinerlei Rente
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