Die Romantherapie: 253 Bücher für ein besseres Leben (German Edition)
anderen vor unnötigem Schmerz zu bewahren, sind Lügen im Normalfall gemein und/oder egoistisch – und entspringen dem Bedürfnis, jemandem Unheil zuzufügen oder sich selbst vor Beschämung oder Bestrafung zu schützen. Unterschätzen Sie nicht den Schaden, den sie anrichten können. Nehmen Sie sich hier und da kleine Unehrlichkeiten heraus, wie unbedeutend auch immer diese wirken mögen, und Sie schieben sich nicht nur selbst in die Kategorie jener Menschen ab, denen man nicht vertrauen kann, sondern Sie laufen zusätzlich Gefahr, sich selbst oder anderen Verletzungen zuzufügen, die ein Leben lang bleiben.
Um Sie davor zu bewahren, schlagen wir eine Kombination 224 zweier verschiedener Wirkstoffe vor: Zunächst sollten Sie sich mit Michael Köhlmeier den moralischen Ambivalenzen, den Verlockungen der Lüge ausliefern, um dann, gewappnet mit neuen Erkenntnissen über den mächtigen Feind, mit Ian McEwan in die moralische Eindeutigkeit des Neunten Gebots zurückzufinden.
Genüsslich dekliniert Michael Köhlmeier sie in Die Abenteuer des Joel Spazierer durch, die Spielarten der Lüge. Joel Spazierer, die Hauptfigur dieses wuchtigen und extrem lesbaren Romans, der uns quer durch das 20. Jahrhundert führt, ist, klinisch gesprochen, ein Psychopath, ein komplett amoralischer Mensch: »Ich besaß nie den Ehrgeiz, ein guter Mensch zu werden.« Zugleich ist er ein geschickter Manipulator mit großer Menschenkenntnis, der seine Mitmenschen schon als Kind lesen und steuern kann. Und hat dabei ein Gesicht, so engelsgleich, als könne er kein Wässerchen trüben mit seinen blonden Locken und Sommersprossen. Mit neun Jahren verdient er sich ein üppiges ›Taschengeld‹ als Stricher, später als Erpresser, und noch vor dem Abitur begeht er seinen ersten Mord. Später dealt er u. a. in einem Priesterseminar und macht als vermeintlicher illegitimer Enkel von Ernst Thälmann Karriere in der DDR .
Während der Lektüre werden Sie erfahren, dass lügen eine kreative und ebenso eine strategische Leistung ist. Sie werden erfahren, wie wichtig es ist, die Hauptlüge zu kennen, aber auch, von ihr abzuweichen; und dass es der Glaubwürdigkeit guttut, sich als schlechter Erzähler zu inszenieren, weil die Menschen dazu neigen, dem Ungeschickten zu vertrauen. Parallel werden Sie an sich selbst beobachten, wie Ihre moralische Abscheu vor den fiesen Taten dieses Mannes bröckelt, wie Sie Sympathie für ihn empfinden, ihm verfallen, sich sogar – mit ihm identifizieren. An diesem Punkt könnte es geschehen, dass Sie auf die Idee kommen, Ihre neuen Kenntnisse anzuwenden. Warum nicht ein bisschen lügen, so wie dieser sympathische, abenteuerlustige, charmante Joel Spazierer? Nun möchten wir Sie bitten, sich an eins zu erinnern: Sie lesen. Joel Spazierer ist eine Figur. Sein Leben ein Roman. Sie hingegen sind ein Mensch, leben in 225 der Realität und sind dem raffinierten Erzähler und Verführer Michael Köhlmeier auf den Leim gegangen, Ihre moralischen Standards sind korrumpiert. Jetzt lesen Sie den Roman bitte zu Ende, genießen Sie jeden Satz. Sie kennen jetzt die Verführungskraft der Lüge. Machen Sie sich bereit für den zweiten Teil der Kur: die Austreibung.
Sehen Sie sich an, was der dreizehn Jahre alten Briony in Ian McEwans Abbitte passiert. Sie lässt nämlich zu, dass ihre überaus lebhafte Fantasie mit ihr durchgeht, gepaart mit ihrer Tendenz zur Melodramatik und ihrem Selbstbild einer altruistischen Beschützerin – vielleicht einfach deshalb, weil sie immer noch darunter leidet, dass sie Robbie, dem Sohn der Haushälterin, der wie ein Familienmitglied groß geworden ist, ihre kindliche Schwärmerei gestanden hat. Als sie ihre Schwester Cecilia und Robbie in der Bibliothek in flagranti erwischt, könnte man es noch ihrer Naivität zuschreiben, dass sie die Situation vollkommen falsch interpretiert. Aber als sie später im Dunkeln über ihre vollkommen aufgelöste Kusine Lola stolpert, die von einer schattenhaft wegrennenden Gestalt zusammengeschlagen und vergewaltigt worden ist, gibt es für sie nur einen Schuldigen. Der gesellschaftlich unter ihr stehende Robbie mit seinen »kräftigen, linkischen Gliedern« und seinem »freundlichen, kantigen Gesicht«, der sie früher »huckepack getragen« hat und mit ihr im Fluss schwimmen gegangen ist, verwandelt sich in ihrer fiebrigen Vorstellung von jetzt auf gleich in einen brutalen Unhold, der die Gastfreundschaft der Familie auf entsetzliche Art und Weise missbraucht hat und
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