Die Romantherapie: 253 Bücher für ein besseres Leben (German Edition)
bestraft werden muss.
Ihr jugendliches Alter entschuldigt Briony nicht. Sie verfängt sich in ihrer eigenen Einbildung, spinnt verwickelte Geschichten fort, die sich aus Missverständnissen speisen, und übertönt dabei ihre innere Stimme, die sie an die Wahrheit gemahnt. Um die lügenhafte Geschichte, die sie in die Welt gesetzt hat, aufrechterhalten zu können, entscheidet sie sich dazu, jeden Zweifel auszulöschen. Und so lügt sie, als der Kommissar sie fragt, ob sie Robbie deutlich und mit eigenen Augen gesehen habe. 226
Diese Lüge ruiniert nicht nur das Leben von Robbie und Cecilia, sondern auch ihr eigenes. Während sie um Buße für ihr Vergehen ringt, geht sie die Details in einer ewigen Leier immer und immer wieder durch, wie einen Rosenkranz, den man ein Leben lang durch die Finger gleiten lässt. Dieser Roman sollte als Schutzimpfung gelesen werden gegen die Versuchung, die Unwahrheit zu sagen. Lesen Sie ihn und behalten Sie ihn als ständige Mahnung im Kopf.
Lustlosigkeit
Ragtime
E. L. Doctorow
Lustlosigkeit ist ein berüchtigtes Leiden, ist es doch schwer zu diagnostizieren. Leicht zu verwechseln mit Langeweile (die eigentlich nur von mangelnder Fantasie herrührt; ▶ Langeweile ) und Lethargie (die sich als körperliche Trägheit manifestiert, obwohl auch sie einen psychischen Auslöser hat; ▶ Lethargie ), kann Lustlosigkeit dem ungeübten Auge als Ausdruck eines stumpfsinnigen Charakters erscheinen. Wenn man sie nicht behandelt, kann sie ein ganzes Leben zerstören – und zwar nicht nur das des/der Betroffenen. Lustlos zu leben heißt, ohne den Hunger auf neue Erfahrungen zu leben und die Würze, die Saftig- und die Holprigkeiten zu verpassen, die das Leben erst spannend machen. Es bedeutet, mit stumpf gewordenen Sinnen zu leben, mit nicht entfachten Leidenschaften und ungeweckter Neugierde. Es bedeutet, die Menschen um sich herum endlos runterzuziehen – und uns selbst ohnehin. Tun Sie uns allen einen Gefallen. Lesen Sie diesen Roman und legen Sie bei sich den Schalter um.
Das Thema von Ragtime sind die USA nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – eine Zeit, in der sich die gesamte Nation im beschwingten Griff von Aufbruch, Erfindung und Wandel befand. Überall im Land wurden neue, glänzende Schienen verlegt. »Model T«-Fords flossen von den Montagebändern. Hohe Gebäude katapultierten die Menschen himmelwärts, und an Bord von Flugzeugen sausten 228 sie davon. Unablässig summten Telefone. Knaller und Feuerwerksraketen explodierten am Himmel. In den Wohnungen kitzelte Niespulver den Leuten in der Nase, und Plastikrosen, aus denen Wasser spritzte, brachten sie zum Lachen.
In dieser Atmosphäre spielt die Geschichte einer gut situierten Familie in New Rochelle, New York. Eines Tages starrt der Sohn (der einfach nur als »der kleine Junge« auftritt) auf eine dicke, auf dem Fliegengitter herumkrabbelnde Schmeißfliege, als draußen vor der Tür Harry Houdini einen Autounfall baut und die Familie ihn auf einen Tee hereinbittet. Kurz darauf entdeckt die Mutter ein schwarzes Baby im Garten und holt das Kind ins Haus – womit sie das erste in einer ganzen Reihe von kulturellen und geschlechterrollenspezifischen Tabus bricht. Als der Vater von einer Arktisexpedition zurückkehrt und merkt, dass die Mutter seinen Handel mit Feuerwerkskörpern übernommen hat, werden ihm die Schauplätze des häuslichen Lebens zusehends fremd, und der familiäre Zusammenhalt zerfällt.
Indem er von lebhaften Großaufnahmen in große, beeindruckende Totalen zoomt und Begegnungen zwischen echten und erfundenen Charakteren an den Kreuzungspunkten eines überaus komplexen Spinnennetzes inszeniert, verpasst E. L. Doctorow seinem Roman – und seinen Lesern – einen enormen Auftrieb. Während Einwanderer aus Italien und Osteuropa – wie Tateh und seine schöne Tochter – in die heruntergekommenen Mietshäuser der Lower East Side strömen und der Bankier J. P. Morgan in punkto Reichtum und Macht neue Maßstäbe setzt, bietet Houdini mit immer neuen, Furcht einflößenden Kunststückchen dem Tod die Stirn. Freud legt Amerika auf die Couch, und der Onkel des Jungen, Mutters jüngerer Bruder, stellt Evelyn Nesbit nach, der ersten Sexgöttin des Landes.
Beim Lesen wird augenfällig, wie die Mutter und der kleine Junge ›Ja‹ sagen zu Fortschritt und Veränderung. Sehen Sie sich an, wie sich der Vater im Gegensatz dazu weigert, mit der Zeit zu gehen. Lassen Sie sich wie Tateh vom taumelnden Tumult der
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