Die Romantherapie: 253 Bücher für ein besseres Leben (German Edition)
Doctorow'schen Sätze aus dem allzu Bekannten und Nichtssagenden reißen. Steigen Sie in den Zug in ein 229 neues Leben. Nehmen Sie für sich die Neugierde des Jungen auf die allerneuesten Erfindungen mit. Machen Sie sich Opas Freude beim Anblick des Frühlings zu eigen (passen Sie aber auf, dass Sie, sollten Sie über siebzig sein, nicht bei einem spontanen Tänzchen ausrutschen und sich die Hüfte brechen, wie es ihm passiert). Seien Sie an einem Ort, wo Veränderung tatsächlich geschieht, und spüren Sie, wie Lust und Antrieb in Sie zurückfluten.
▶ Gelüste; keine mehr verspüren 230
Malaise des 21. Jahrhunderts
Super Sad True Love Story
Gary Shteyngart
Das Unwohlsein, das alle empfinden und das so bezeichnend für dieses Jahrhundert ist, kommt von der Diskrepanz zwischen der eigenen Sehnsucht nach einem zufriedenen, erfüllten, ja sogar abenteuerlichen Leben und der Absurdität einer Gesellschaft, wie sie sich um uns herum entfaltet. Fürs Erste seien als Mitverursacher der Depression dieses Jahrhunderts genannt: Bürokratismus, Political Correctness, Sicherheitsgesetzgebung und die durch die übertriebene Nutzung von Technologie verursachte Dysfunktionalität Einzelner.
In Gary Shteyngarts Super Sad True Love Story leben Lenny und Eunice in einer zwar zukünftigen, sich jedoch von der unsrigen gar nicht so sehr unterscheidenden Welt, in der die Individuen von einem Datenstrom ständig auf den neuesten Stand ihrer Kreditwürdigkeit und ihres Rankings in sozialen Netzwerken gebracht werden, während sie zusätzlich tagesaktuelle Shopping-Anregungen und den neuesten Tratsch ihrer Freunde bekommen. Lenny ist ein 39-jähriger jüdischer Einwanderer aus Russland, der Bücher ganz unzeitgemäß sowohl liebt als auch liest (vor allem Tolstoj, was seine Freunde für ungesund halten). Das Objekt seiner Begierde heißt Eunice und ist eine junge Studentin aus Korea. Ihre Geschichte wird abwechselnd durch Tagebucheinträge erzählt, Lenny schreibt ganz althergebracht, Eunice auf ihrem »Global-Teens Account« – eine Art allumfassende Version von Facebook –, weswegen uns der Spaß zuteilwird, Eunice beim »Teenen« zuhören zu dürfen. Die Einträge von Eunice offenbaren ihre Angst vor der Zukunft und die Zu 231 friedenheit, die sie zu ihrer eigenen Überraschung mit Lenny erlebt. Währenddessen befindet sich New York um sie herum in Auflösung, die USA führen Krieg gegen Venezuela, und alle sind derart bei den Chinesen verschuldet, dass der Geldhahn jede Sekunde zugedreht werden wird. Lenny bangt um ihre Zukunft – die jedes Einzelnen, aber auch die der Nation.
Diese Tour de force durch eine ach so medienverrückte, postliterarische Welt, in der sich nach Unsterblichkeit sehnende »Nee-ger« (eine liebevolle Bezeichnung für Freunde jeglicher Hautfarbe) abchecken, sich gegenseitig »EmotePads« ans Herz halten, um die Gefühle der anderen zu kennen, werden Sie nach einem »gebundenen, gedruckten, nicht streambaren Medienerzeugnis« greifen wollen lassen – vielleicht nach einem Tolstoj, so wie Lenny –, sogar dann, wenn dadurch Ihre Stellung im Ranking sinkt. Lenny Abramov, der letzte Leser der Welt, hat am Ende in ziemlich vielen Punkten Recht.
▶ Ernüchterung
▶ Stadtmüdigkeit
▶ Unzufriedenheit
Materialismus
Frau Jenny Treibel
Theodor Fontane
Also, dann wollen wir mal sehen. Zunächst ein kurzes Anamnesegespräch: Wie oft haben Sie in den vergangenen 24 Stunden Ihr Onlinebankkonto gecheckt? Soso. Wissen Sie, wie sich der Zins auf Ihren Konten in den letzten acht Wochen entwickelt hat? Aha. Rechnet ihr Gehirn mitunter ungefragt Riesterfreibeträge aus? Nun gut. Machen Sie sich keine Sorgen, der Materialismus steckt bei Ihnen noch in den Kinderschuhen, hat noch nicht komplett von Ihnen, Ihrem Leben, Ihren Gedanken Besitz ergriffen. Noch nicht. Vollständige Heilung ist möglich. Immer vorausgesetzt, Sie handeln rasch. Es wird Zeit für Theodor Fontane und Frau Jenny Treibel .
Niemand will das Leben von Jenny Treibel führen. Niemand will sich gegen die Liebe und für den sozialen Aufstieg ent 232 scheiden, niemand will beständig hohle Wagnerphrasen dreschen, um künstlerisches Interesse zu simulieren. Niemand möchte seinem Sohn vorschreiben, wen er zu heiraten hat. Schon gar nicht möchte man seinem Sohn vorschreiben, sich lebenslang an eine stinklangweilige Person zu binden, nur weil sie Kohle hat. Niemand will sich voll und ganz der Vermehrung seiner Währung verschreiben.
Und genauso
Weitere Kostenlose Bücher