Die Romantherapie: 253 Bücher für ein besseres Leben (German Edition)
zusätzliche Schlacht, die Sie zu schlagen haben, Sie wie Jason zu einem reiferen Menschen machen. Und zweitens werden Sie, ebenfalls wie 342 Jason, wahrscheinlich feststellen, dass Sie zwar in einer Hinsicht gehandicapt, dafür aber in einer anderen extrem begabt sind.
Sprachlosigkeit
Lolita
Vladimir Nabokov
Wenn Sie vor Schreck sprachlos sind, dann warten Sie, bis Sie sich wieder erholt haben, und Ihre Sprachfähigkeit wird zurückkehren. Falls die Worte nicht herauskommen wollen, weil Sie stottern, siehe ▶ Sprachfehler . Aber wenn Ihnen die Worte fehlen, weil Worte nicht zu Ihren Freunden gehören, weil sie einfach nie da sind, wenn Sie sie brauchen, dann wählen Sie Humbert Humbert, den Erzähler in Vladimir Nabokovs Lolita , für eine Weile zum Gefährten, einen Mann, dem niemals die Worte fehlen.
Von Rechts wegen sollte Humbert Humbert – oder H. H., wie wir ihn nennen wollen –, der in seinem egoistischen Streben nach seiner pädophilen Vergnügung das Leben eines jungen Mädchens zerstört hat, vor Scham verstummen. Stattdessen steht er mit den Worten auf bestem Fuße, während er im Gefängnis auf den Prozess wartet, der sein weiteres Schicksal bestimmen wird. Tatsächlich kann H. H. es kaum erwarten, seine Geschichte zu erzählen. Denn hier im Gefängnis muss er die abscheuliche Kreatur, die er ist, nicht länger unterdrücken und verheimlichen. Nun endlich kann er sich den herrlichen Erinnerungen an seine Leidenschaften hingeben.
Eine dieser Leidenschaften ist die Sprache. Für H. H. sind Wörter dazu da, um mit ihnen zu spielen; er liebt Anspielungen und Doppeldeutigkeiten, denn sie bieten ihm Entspannung und ein Ventil für seinen boshaften Humor. Was H. H. da macht, ist natürlich nichts anderes, als uns, seine Leser, zu verführen, und zwar mit der Zunge. Wir sind genauso gebannt von seinen Beschreibungen der kleinen Lolita wie er von dem Mädchen selbst. Vom ersten Satz an, in dem er ihren Namen in seine drei köstlichen Silben »Lo-li-ta«, zerlegt, sind wir wie gefangen von diesem »nerven 343 zermürbenden Balg«, süchtig nach der Sprache, in der es uns offenbart wird. Und so, im Bann seiner Schwärmerei, ebenfalls befleckt vom gemeinsamen Kitzel, wie können wir H. H. da verurteilen, ohne uns selbst zu verachten? Und genau damit spielt Nabokov. Am Ende sind wir so entzückt von H. H. s ekelerregendem Geständnis des Mordes, der Vergewaltigung, Pädophilie und Inzucht – »Mark klebt daran und Blut und schöne grünschillernde Fliegen« –, als schilderte er uns die moralisch einwandfreie Liebesgeschichte zweier Erwachsener. Nabokov hat eine abscheuliche Angelegenheit in ein außergewöhnliches Kunstwerk verwandelt.
Der Unterschied zwischen Ihnen – sprachlos, mit angsterfülltem Blick – und Humbert Humbert – wortgewandt, belesen, frankophon, mit einer Vorliebe für kleine Mädchen und le mot juste – besteht darin, dass dieser sprachgewandte Verbrecher etwas besitzt, was Ihnen fehlt: die Überzeugung, ein Recht darauf zu haben, seine Stimme zu erheben. Borgen Sie sich dieses Recht von ihm. Tauchen Sie ein in seine eleganten Rhythmen, aber nicht in seine uneleganten Aktivitäten. Betrachten Sie Sprache – und nicht Kindfrauen – als ihr Spielzeug, als Quelle privaten und geteilten Vergnügens. Machen Sie sich seinen verführerischen Charme – aber nicht seine Verführung junger Mädchen – zu eigen, lassen Sie Ihre Zungenspitze drei Sprünge den Gaumen entlang machen, bis Sie an die Zähne schlägt, und gestatten Sie Ihrer geplagten Zunge endlich zu sprechen.
Stadtmüdigkeit
Die Stadt und die Stadt
China Miéville
Das Leben in der Stadt kann ziemlich aufreibend sein. Die weiten Wege, die Hektik, die Anonymität. Die graue Trostlosigkeit endloser Betonlandschaften, die flackernden Werbetafeln, der Müll, die Kriminalität. Wenn Ihre Stadt Sie krank macht, dann raten wir Ihnen dringend, keinen Fuß mehr vor die Tür zu setzen, bevor Sie nicht Die Stadt und die Stadt von China Miéville gelesen haben. Miévilles so beunruhi 344 gende und doch so vertraute Geschichte ist einfach der beste Roman über das Leben in der Stadt, den wir kennen, und wird Ihnen eine 3-D-Brille aufsetzen, wo Sie bislang nur in 2-D gesehen haben.
Denn wenn Sie durch die Straßen der fiktiven Stadt Besźel gehen, dann müssen Sie die Leute, die neben Ihnen herlaufen, sich jedoch in einer anderen Stadt befinden, »nichtsehen« [sic!], denn sie leben in der Stadt Ul Qoma, die denselben geographischen
Weitere Kostenlose Bücher