Die Rose des Propheten 5 - Das Buch der Nomaden
war das Aufwachen keine grauenerregende Erfahrung gewesen.
Zohra setzte sich neben ihn. Unbeholfen, als sei sie derlei sanfte Gesten nicht gewöhnt, ergriff sie seine Hand. »Du mußt deine Heimat sehr vermissen.«
Mathew wandte den Kopf ab, um die Tränen zu verbergen. Doch dann begann er hemmungslos zu schluchzen. Er erwartete eine Bemerkung von Zohra zu hören, doch zu seiner Überraschung sagte sie nichts. Er war noch erstaunter, als sie seine Hand drückte.
»Ich weiß jetzt, was das heißt, sein eigenes Heim zu vermissen. Es tut mir wirklich leid für dich, Mat-hew.« Ihre Stimme war sanft und von Mitleid erfüllt. »Wenn all dies vorbei ist, finden wir vielleicht eine Möglichkeit, dich zurückzubringen.«
Sie stand auf und verließ ihn, um etwas zu essen zu holen. Dankbar für die Zeit, die er nun allein zubringen konnte, gelang es Mathew vom Lager aufzustehen, und wenn er auch schwankte, so vermochte er es doch, sich ein wenig zu waschen. Plötzlich vernahm er Schritte.
Doch es war nicht Zohra, die zu ihm kam, sondern Khardan.
»Deine Kraft kehrt zu dir zurück«, sagte der Kalif lächelnd. »Ich habe dir das hier gebracht.« Er hielt eine Schale Reis in der Hand. »Du sollst soviel essen, wie du kannst, sagt… meine Frau.« Er sprach die beiden Wörter mit einer gewissen grimmigen Ironie aus. »Kommst du allein zurecht?« fragte Khardan dann ein wenig verlegen.
»Ja! Promenthas sei Dank«, erwiderte Mathew inbrünstig. Er nahm den Teller entgegen, dann aß er den Reis gierig mit den Fingern.
Khardan wirkte erleichtert, als er sich setzte und sich mit einem Stöhnen den Nacken rieb.
»Es tut mir leid, daß ich… eure Reise aufgehalten habe«, murmelte Mathew.
»Um ehrlich zu sein, ich bin gar nicht so begierig darauf, zu meinem Volk zurückzukehren«, sagte Khardan düster. Lange Augenblicke saß er schweigend an die Wand gelehnt da, die Augen geschlossen. Schließlich schaute er Mathew müde an. »Ich muß mit dir sprechen, Mat-hew. Fühlst du dich dazu in der Lage?«
»Ja! Ganz gewiß!« Mathew stellte die leere Reisschüssel auf den Boden.
»Sagst du es mir, Mat-hew, wenn du ermüdest?«
»Ja! Khardan, Ich verspreche es.«
Der Kalif nickte und furchte die Stirn, versuchte zu entscheiden, wie er beginnen sollte. Mathew wartete geduldig.
»Diese Vision… die meine Frau… hatte«, sagte er abrupt. »Erzähl mir davon.«
»Es wäre wohl angebrachter, wenn du sie selbst danach fragen würdest«, schlug Mathew vor, den die Frage überraschte.
»Ich kann nicht mit ihr sprechen. Wenn wir zusammenkommen, ist es, als würde man eine Fackel an trockenen Zunder halten. Jedes vernünftige Gespräch löst sich in Rauch auf! Ich bitte dich, mir von der Vision zu erzählen, die das alles in Bewegung gesetzt hat.«
Mathew wunderte sich über den Wandel des Kalifen, der solche Visionen früher als Frauenmagie abgetan hatte.
»Ich war damit beschäftigt, Zohra einen Zauber meines Volks zu lehren, der es uns gestattet, in die Zukunft zu sehen. Man nennt es Hellsehen. Dazu nimmt man eine Schale Wasser und stellt sie vor sich auf. Als nächstes befreit man den Geist von allen Gedanken und äußeren Einflüssen, murmelt die geheimen Worte, und wenn man Glück hat, läßt Sul im Wasser ein Bild entstehen, das die Zukunft vorhersagen kann.«
Mathew hielt inne und rechnete damit, ein Lachen oder ein verächtliches Schnauben zu vernehmen. Doch Khardan schwieg. Mathew musterte ihn eindringlich und fuhr dann fort. »Zohra hat den Zauber vollkommen ausgeführt. Deine Frau ist wirklich sehr stark auf dem Gebiet der Magie. Sul hat sie mit seiner Gunst gesegnet. Als sie in das Wasser schaute, hatte sie zwei Visionen.« Er schloß die Augen und konzentrierte sich angestrengt, um sich an jede Einzelheit zu erinnern. »In der ersten Vision herrscht Sonnenuntergang. Eine Schar von Habichten, die von einem Falken angeführt werden, fliegt zur Jagd hinaus. Doch schließlich bekämpfen sie einander, und so entkommt ihre Beute. Dann stürzen sich Adler auf sie. Die Habichte und der Falke kämpfen zwar gegen die Adler, werden aber geschlagen. Der Falke wird verwundet und stürzt zu Boden, um sich nicht wieder zu erheben. Die Nacht bricht ein. Nun ist es in der zweiten Vision so…«
Wie er die Szene wieder vor dem geistigen Auge betrachtete, hatte Mathew seinen Zuhörer bereits vergessen. Mit einem plötzlichen Ruck wurde er in die Wirklichkeit zurückgerissen.
»Vögel!« Die Worte ertönten wie ein Donnerschlag.
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