Die Rose von Angelâme (German Edition)
als habe sie es sich doch noch einmal anders überlegt, gleich wieder um die halbe Körperlänge zurückzuziehen.
Pierre zog Mantel und Schuhe aus und rannte in Strümpfen ein paar Schritte in das eiskalte Wasser hinein, das ihm gerade wieder in einer mächtigen Welle entgegen rollte. Mit beiden Händen versuchte er die leblose Gestalt zu fassen, aber der Arm, den er erwischt hatte, entglitt ihm wieder, und er selbst stürzte kopfüber ins eiskalte Wasser, da ihm das erneut zurückweichende Meer den Boden unter den Füßen wegzog. Hustend rappelte er sich wieder auf und sah sich suchend um. Salzwasser rann ihm in die Augen, und seine nassen Kleider hingen schwer wie Blei an ihm. Auf allen Vieren lief er vor der nächsten Welle davon, die ihn unweigerlich wieder umgeworfen und womöglich mitgerissen hätte. Aber er konnte immerhin einen Zipfel des Hemdes erwischen, das dem Toten in Fetzen vom Leib hing, und ihn daran aus dem Wasser heraus soweit an Land ziehen, dass sie beide zunächst einmal in Sicherheit waren.
Pierre warf einen Blick auf die Gestalt, die in grotesker Verrenkung vor ihm im Sand lag, und erbrach einen Schwall Wasser, den er bei seinem Sturz geschluckt hatte, genau neben ihn. Der Tote war noch sehr jung, hatte gerade seinen ersten Flaum auf der blassen Oberlippe.
Gerade wollte er sich dem Dorfe zuwenden, um Hilfe für den Abtransport des Toten zu holen, als er im Wasser noch eine Leiche schwimmen sah. Pierre lief, ohne nachzudenken, noch einmal in die kalten Fluten, aber diesmal war er geschickter. Er konnte den Toten ohne Weiteres herausziehen und zum anderen legen. Auch dieser Mann war noch sehr jung gewesen, und Pierre befiel eine tiefe Trauer beim Anblick dieser so früh dahingerafften Menschen.
Erschöpft sank er für einen Augenblick auf die Knie und wagte nicht, noch einmal zum Meer zu sehen. Er wusste, dass er ein drittes Mal nicht genügend Kraft für sich und diejenigen haben würde, die das Wasser zuerst verschluckt, und dann wieder ausgespien hatte.
Jetzt erst merkte er, dass die nassen Kleider, die ihm hinderlich gewesen waren, an seinem Körper klebten, und dass er erbärmlich fror. Der eisige Wind, der noch immer von See her auf das Land zu fegte, blähte sein Hemd plötzlich auf und zerrte es aus den Beinkleidern. Pierre erhob sich mühsam und schwer atmend und lief taumelnd zum Dorf zurück. Zu seiner Überraschung merkte er, dass ihn die Strömung ein ganzes Stück vom Felsen abgetrieben hatte, von dem aus er losgelaufen war. Er brauchte entsetzlich lange, bis er das Gasthaus erreicht hatte, in dem er wohnte.
Der junge Mann stieß die Tür auf und fiel mehr als er ging in den Gastraum.
Isabelle, die gerade dabei war, die Tische zu bürsten, schrie entsetzt auf und lief herbei, um ihm zu helfen.
„Die Toten“, keuchte Pierre und zeigte hinaus aufs Meer.
Isabelle verstand. Sie brachte ihn zum Kohlefeuer, während sie nach ihrem Vater rief, und half ihm, das nasse Hemd auszuziehen.
Der Wirt kam herbeigelaufen, und als er Pierre sah, verstand er sofort. Er packte ein paar Taue und Stricke zusammen und rannte aus dem Haus, nach den Nachbarn rufend. Inzwischen war die Wirtin erschienen, die sich sofort anschickte, einen Krug Apfelwein zu erhitzen, und Isabelle anwies, einen Kessel Wasser aufzusetzen.
„Zieht das Zeug aus“, befahl sie Pierre und reichte ihm eine wollene Decke, in die er sich hüllen konnte. Als sie sein Zögern sah, herrschte sie ihn an: „Glaubt Ihr vielleicht, Ihr seid der erste nackte Mann, den ich sehe? Los, stellt Euch nicht so an, wenn Euch Euer verschämtes Leben wichtig ist!“ Und, zu Isabelle gewandt, die sich am Feuer zu schaffen gemacht hatte: „Dreh dich um, unsere Wasserleiche ist genierlich.“
Die Männer kamen erst bei Einbruch der Dunkelheit zurück, und brachten Pierres Mantel und Schuhe mit, die Isabelle zum Trocknen aufhängte. Pierre saß in der Nähe des Feuers, eingehüllt in seine Wolldecke und ein wenig benommen von dem heißen Gebräu, das die Frauen ihm gereicht hatten. Als die Fischer ihn dort sitzen sahen, prosteten sie ihm zu, und Pierre begriff trotz des Nebels in seinem Kopf, dass sie ihn als einen der Ihren willkommen hießen. Schließlich hatte er sein Leben für die riskiert, die sich dem Meer anvertraut hatten und darin umgekommen waren.
Als er in seine Kammer gehen wollte, stellte er überrascht fest, dass seine Beine ihm den Dienst versagten, und er erreichte die hölzerne Stiege nach oben nur recht mühsam. Feste
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