Die Rose von Angelâme (German Edition)
Knochen eines Hühnchens nagte.
Pierre sah von seiner dampfenden Schüssel voller Gemüse und Fleischstückchen auf, die man ihm serviert hatte. Sein Essen war so heiß, dass er es bisher noch nicht einmal hatte probieren können. Bislang konnte er nur mit hungrigen Augen zusehen, wie Henri genüsslich sein Hühnchen verspeiste.
„Vor wenigen Tagen erhielt ich die Nachricht, dass Guillaume Imbert verstorben ist“, fuhr Henri fort. „Deshalb habe ich Euch rufen lassen.“
„Ach.“ Pierre hob die Schüssel zum Mund und begann, vorsichtig von ihrem flüssigen Inhalt zu schlürfen. Es entging ihm völlig, was er mit dem Tod des fetten Imbezille zu tun haben sollte, aber er wartete ab.
„Die Bruderschaft de Saint-Germain-des-Prés war bislang nur für diejenigen von Interesse, die sich um jenen Mann geschart hatten, der nie aufgegeben hat, hinter das Geheimnis der Rose von Angelâme zu kommen“, begann Henri. „Solange er am Leben war, liefen wir immer Gefahr, zu enden wie die Herren des Tempels, sollte er uns als ihre Nachfolger sehen.“
„Und weshalb nun habt Ihr mich rufen lassen?“
„Damit Ihr unser Ziel kennenlernt. So hört denn: Vor Jahrzehnten wurde von einem Vertrauten des königlichen Beichtvaters ein Schriftstück abgefangen, in dem davon berichtet wurde, dass ein Mädchen irgendwo im Herzen Frankreichs von einer Vision erzählt habe“, begann Henri. „Der Inhalt dieser Vision, so hieß es darin, sei sowohl für die Kirche, als auch für den Staat von großer Bedeutung. Allerdings, so stand angeblich in dem Schreiben, wisse man weder genau, wer das Mädchen sei, noch, worum es in der Vision gegangen sein soll.“
Henri rülpste laut und spülte seinen letzten Bissen Fleisch mit einem kräftigen Schluck Wein hinunter, bevor er seinen Teller mit einem Kanten würzig schmeckenden Brotes auswischte. Dann steckte er das Brot in den Mund und kaute so bedächtig darauf herum, dass Pierre schon befürchtete, das Ende der Geschichte nie zu erfahren. Aber er schwieg und schlürfte weiter hungrig seine Schüssel leer. Zum Schluss angelte er mit den Fingern die Fleischstücke heraus und verspeiste genüsslich eines nach dem anderen, bevor er sich die Finger abschleckte und die Hände an ein Tuch wischte.
„Es kursierten eine Zeit lang die unglaublichsten Gerüchte über den Inhalt der Vision und das Mädchen. Aber alles war nur Unsinn.“ Henri wischte sein Gesicht mit dem Ärmel seines Hemdes ab, auf dem glänzende Spiegel schon von ähnlicher Behandlung zeugten. „Die üblichen Geschichten.“ Er machte eine abwertende Handbewegung.
„Rose von Angelâme …“ Pierre hielt einen Augenblick lang die Luft an. Langsam dämmerte ihm der ganze Zusammenhang, und die gewonnene Erkenntnis jagte ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Sein Gegenüber nickte.
„Männer wie de Nogaret und Guillaume Imbert von Paris hatten ihre eigenen Quellen, herauszufinden, um wen es sich handelte, wie Ihr Euch denken könnt,“ fuhr Henri fort. „Aus dem Mädchen selbst war nichts herauszubringen, also versuchten sie unabhängig voneinander, mehr darüber in Erfahrung zu bringen, wer denn der geheimnisvolle Vater sein könnte, dem sich das Mädchen auf Geheiß der Erscheinung anvertraut hatte. Jemand, der demzufolge auch den Inhalt jener mysteriösen Botschaft und somit das Geheimnis kennen musste. Beide kamen erst nach ihrem Tod zu der Erkenntnis, dass sie mit dem Vater keinesfalls ihren leiblichen Vater meinen konnte, sondern dass es sich dabei um jemanden handeln musste, dem sie vertraute, und den sie vielleicht deshalb so nannte.“
„Ihr Oheim?“, mutmaßte Pierre.
„Zum Beispiel. Aber der war zusammen mit Roses Mann und dem Kind inzwischen verschwunden. Alle Nachforschungen, wo die drei verblieben sein könnten, verliefen im Sande.“
„Unter dem Schutz von Leuten, die man weder Franzosen noch Christenmenschen nennen könnte, wie ich annehme?“
„So könnte es sein“, antwortete Henri unbestimmt. Er winkte nach einem weiteren Krug Wein und verfiel in nachdenkliches Schweigen.
„Das Ziel“, erinnerte Pierre ihn schließlich. Er hoffte, endlich Aufschluss über das zu bekommen, was ihn bereits seit Jahren quer durch Frankreich gehetzt und schließlich in eine Anonymität gezwungen hatte, aus der er täglich auf eine Weise gerissen zu werden fürchtete, die unweigerlich auf einem der brennenden Holzstöße der Inquisition enden müsste. „Das Ziel ist die Erfüllung des Geheimnisses,
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