Die Rose von Angelâme (German Edition)
fürchterlichen Gerichtsprotokolle, die er übersetzt hatte und die ihm nicht mehr aus dem Sinn gingen. Irgendetwas verband diese Gemäldegeschichte und jene Protokolle miteinander, das war ihm schon während seiner Übersetzungen in den Sinn gekommen.
Aber so sehr er sich auch den Kopf darüber zerbrach, so sehr er sich auch an den Gedankenfetzen zu erinnern suchte, der ihm in der Nacht während seiner Arbeit an den Dokumenten plötzlich durch den Kopf geschossen war: Er kam nicht wieder drauf, worin diese Verbindung bestand, und das machte ihn wütend.
Als Honoré schließlich auftauchte und ihm mitteilte, die Demoiselle wolle ihn sprechen, erhob er sich erleichtert und ging zum Arbeitszimmer, in dem sie auf ihn wartete. Unterwegs begegnete er Jeanette.
„Du bist noch hier?“, fragte sie überrascht.
„Wie du siehst, ja. Deine Herrin hatte noch eine Aufgabe, die ich für sie erledigen sollte. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr. Sobald sie mich entlassen hat, komme ich noch einmal bei dir vorbei.“ Da sie nichts sagte, fügte er noch hinzu: „Ich finde dich schon, mach dir keine Gedanken.“
Liebevoll strich er mit den Fingern eine Haarsträhne aus ihrer Stirn. Es entging ihnen beiden völlig, dass zwei aufmerksame Augen sie die ganze Zeit über beobachtet hatten und eine Tür sich leise schloss, die bislang einen schmalen Spaltbreit offen gestanden hatte.
Julien wandte sich um und ging zu Maries Arbeitszimmer, während Jeanette dem anderen Ende des langen Flurs zustrebte, wo in einer Kammer ein Haufen Wäsche darauf wartete, von ihr ordentlich in die jeweiligen Schränke verteilt zu werden. Eine leichte Röte hatte ihr Gesicht überzogen, und während sie sich an die Arbeit machte, sang sie leise vor sich hin.
Als Julien eintrat, sah er erschrocken in Maries blasses Gesicht. Sie hatte sich den Ledersessel ans Fenster gezogen, auf dem sie wie ein Häufchen Elend saß und zu ihm herübersah.
„Habt Ihr das verstanden?“, fragte sie ihn tonlos und wies auf die verstreut vor ihr auf dem Boden liegenden Unterlagen.
„Ja, Demoiselle, das habe ich.“ Er bückte sich, um die Dokumente aufzusammeln und in seiner Hand zu sortieren. „Wenn Ihr wollt, sehen wir uns gemeinsam alles noch einmal Seite für Seite an. Ich sehe, dass meine Übersetzung Euch aufgeregt hat“, sagte er sanft und reichte ihr die Papiere.
„Nicht die Übersetzung, Julien“, entgegnete Marie leise. „Die Tatsachen.“
Julien erkannte die junge Dame fast nicht wieder. Verschwunden waren ihre stolze Haltung, ihr herrisches Getue. Verschwunden auch die bittere Ironie in ihrer Stimme, die sie ihm gegenüber immer wieder angeschlagen hatte. All das war einem fassungslosen Entsetzen gewichen, welches sie eher wie ein verschrecktes kleines Mädchen denn wie eine entschlossene Herrin wirken ließ. Eine Spur Mitleid überkam ihn.
„Demoiselle, ich möchte Euch bitten, vergegenwärtigt Euch, dass diese Schriftstücke gute fünfhundert Jahre alt sind, und dass sie nichts mit Euch zu tun haben!“, gab er deshalb vorsichtig zu bedenken.
Aber da war plötzlich auch jener Gedankenfetzen wieder, der irgendetwas mit dem Gemälde und den Protokollen verband, den er aber nicht fassen konnte.
„Das tue ich“, antwortete Marie noch immer leise und wandte sich dem Fenster zu.
„Dann braucht Ihr Euch doch über deren Inhalt nicht weiter den Kopf zu zerbrechen!“, bemühte er sich erneut, sie zu beruhigen.
„Doch Julien, denn es ist völlig gleichgültig, wann das alles geschehen ist. Die Tatsachen, die ich darin gelesen habe, sind so unglaublich, dass mich im Augenblick gar nichts beruhigt.“
„Doch, ich kenne da ein gutes Rezept“, widersprach Julien und lächelte sie aufmunternd an. Dann zog er entschlossen am Glockenstrang. Mochte sie ihn ruhig wieder anmaßend nennen, es war ihm vollkommen gleichgültig.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis Honoré eintrat.
Julien gab dem verblüfften Major Domus Anweisung, für die Demoiselle ein wenig Rotwein mit bestimmten Kräutern und Gewürzen aufzukochen, die er ihm nannte, abzuseihen und ihr das Getränk noch warm zu servieren.
Honoré war Marie gegenüber seit einiger Zeit verbissen schweigsam gewesen. Er verzieh ihr offenbar nicht, dass sie die seiner Meinung nach verlockende Möglichkeit einer Einheirat in die angesehene Familie von Jean-Philippe verspielt hatte. Marie hatte sehr wohl bemerkt, dass er seine Ansicht über diesen unerhörten Skandal immer wieder auf seine Weise
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