Die Rose von Angelâme (German Edition)
Schreibtischauflage versteckt.“
Julien war aufgestanden und streckte verschlafen seine Glieder.
„Das kann ich Euch leider auch nicht sagen.“ Er ließ sich respektlos auf der Kante des Schreibtisches nieder, aber diesmal sagte sie nichts zu seinem flegelhaften Benehmen.
„Demoiselle, ich habe nicht alles entziffern können, weil an manchen Stellen die Schrift unleserlich ist. Diese Dokumente hier sind über fünfhundert Jahre alt, und es ist erstaunlich, dass sie überhaupt noch so gut erhalten sind.“
„Über fünfhundert Jahre alt? Woher wisst Ihr das denn?”
„Es sind Daten in den Text eingefügt, Demoiselle.“
„Oh.“
„Allerdings ist das Protokoll nicht vollständig, es fehlen viele Seiten, was eine flüssige Übersetzung ungemein erschwert.“ Er sah sie mit schräg gelegtem Kopf an. „Es sind keine guten Dinge, die da stehen“, sagte er leise. „Deshalb ist es besser, wenn Ihr die Übersetzung hier in aller Ruhe lest. Lasst mich rufen, wenn Ihr mich braucht.“ Er wandte sich zum Gehen.
„Habt Ihr denn schon alles übersetzt, was Ihr gefunden habt?“, fragte Marie schnell, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Der Gedanke daran, ihn gleich in der Nähe von Jeanette zu wissen, fegte ihre gute Laune augenblicklich wieder weg.
„Nun ja, so weit es mir eben zeitlich möglich war. Viele Seiten habe ich nicht mehr übersetzt. Ich bin etwas aus der Übung, war sehr müde, und außerdem hatte ich kein Wörterbuch, mit dessen Hilfe ich zügiger hätte arbeiten können.“
„Ach du liebe Zeit“, sagte Marie und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Daran habe ich überhaupt nicht gedacht!“
Sie lief zu einem der Bücherborde hinüber, die ringsum an den Wänden entlangliefen, und nur Gemälde, Fenster und Türen aussparten, stellte sich auf die Zehenspitzen und angelte zielsicher ein Buch aus einer der Reihen, welches sie ihm reichte.
„Ihr hättet aber auch selber danach suchen können“, sagte sie mit vorwurfsvollem Ton.
Julien sah bedeutungsvoll auf die zimmerhohen Regale rings herum, die von oben bis unten fast lückenlos mit Hunderten von Büchern angefüllt waren.
„Ich hätte niemals gewagt, in Eurer privaten Bibliothek ungefragt nach einem Wörterbuch zu suchen, obwohl ich annehme, dass diese Bücher nach einem gewissen System eingeordnet sind“, erwiderte er schließlich und zog belustigt eine Augenbraue hoch. „Was eine Suche selbst für mich zweifellos erleichtert hätte.“ Er räusperte sich, als sie nicht antwortete, sondern nur mit hochgerecktem Kinn herausfordernd vor ihm stand. „Außerdem wollte ich ursprünglich nur die erste Seite übersetzen, wie Ihr gewünscht hattet.“
„Warum habt Ihr weitergemacht?“
„Nun ja - sagen wir: aus Neugier.“
„Aus Neugier?“
Ihre angespannten Gesichtszüge wichen einem fast kindlich fragenden Ausdruck.
„So ist es. Die Dokumente sind so alt, dass ich mit meiner Arbeit Eure Privatsphäre keinesfalls verletzen konnte“, beeilte er sich hinzuzufügen, als er ihrem Blick begegnete. „Falls Ihr das soeben in Erwägung ziehen wolltet.“
Als sie noch immer nichts sagte, verneigte er sich leicht und ging hinaus.
Marie dachte einen Augenblick lang daran, nach Jeanette zu läuten und ihr eine Arbeit zu geben, die sie die nächsten Stunden weit genug von diesem Maler ferngehalten hätte. Stattdessen öffnete sie jedoch das Fenster zum Rosengarten und atmete tief durch. Schließlich war sie eine Angelâme - was gingen sie die Techtelmechtel ihrer Dienstboten an!
Energisch schloss sie das Fenster nach einigen Minuten wieder, fühlte sich aber keinesfalls besser.
Sie zog die Pergamentblätter vom Schreibtisch, setzte sich auf den Sims und begann, die Übersetzung in aller Ruhe zu lesen. Nur die gemalten Augen der Ahnen an der Wand wurden Zeugen des Entsetzens, das sich langsam im Gesicht der jungen Dame ausbreitete, während sie Seite für Seite studierte. Als Marie ihre Lektüre beendet hatte, ließ sie zitternd die Hand sinken, ohne darauf zu achten, dass ihr die Blätter dabei entglitten und zu Boden fielen.
„Guter Gott“, flüsterte sie und starrte zu dem gemalten jungen Mann hinüber, der jedoch ungerührt an ihr vorbei sah. „Guter Gott.“
Julien war inzwischen zu seinem alten Zimmer zurückgekehrt. Er hatte sich auf sein Bett gesetzt, den Kopf auf die Hände gestützt und begonnen, über die vergangenen Wochen nachzudenken. Dazu, so war ihm plötzlich in den Sinn gekommen, hatte er auch allen
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