Die Rose von Darjeeling - Roman
jemand ihren inneren Thermostat auf Schockfrosten gestellt. Der Baum wird sterben. Diese Blüten sind ein letztes Aufbegehren gegen das Unvermeidbare. Und wenn die Rose stirbt, dann wird es auch mit mir bald zu Ende gehen.
Es war, als würde eine eiserne Faust ihr Herz zusammenpressen. Der Schmerz raubte ihr den Atem. Sie ließ sich in einen Gartensessel sinken. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn.
»Warum freuen Sie sich denn nicht?« Marie verstand Kathryns Reaktion nicht. »O Gott, ist Ihnen nicht wohl, Mylady?«
»Wasser!«, stieß Kathryn hervor. Miles stob davon.
»Einen Arzt!«, rief Marie, »schnell, einen Arzt!«.
»Nein, nein, keinen Arzt!«, verlangte Kathryn schwach. »Es geht gleich wieder… Ich muss mich … nur einen … Augenblick hinlegen.«
Nachdem sie zwei Aspirin genommen und eine Stunde geruht hatte, fühlte Kathryn sich viel besser. Draußen dämmerte es. Ihr Mann hatte diese Stimmung nach Sonnenuntergang, die Blaue Stunde, immer besonders geliebt. Kathryn erhob sich und ging nach nebenan ans geöffnete Fenster ihres Privatsalons. Miles lag bäuchlings auf dem Rasen. Er untersuchte mit einer Taschenlampe und einer großen Lupe die Tierwelt zwischen den Gräsern. Jetzt blickte er hoch, und sie winkte ihm zu.
»Geht’s dir wieder gut?«, rief er.
»Ja, mach dir keine Sorgen.« Ihre Stimme klang brüchig.
»Spiel ruhig noch ein bisschen.« Schließlich hatte er Ferien.
Kathryn setzte sich an ihren Biedermeiersekretär. Hier konnte sie Miles im Auge behalten. Sie nahm einen Stift in die Hand und grübelte. Sie musste es endlich sagen – am Sonntag. Aber wie sollte sie anfangen? In ungezählten Tagträumen hatte sie es durchexerziert, doch jetzt schien ihr alles verkehrt. Die Wahrheit, überlegte sie, wie sagt man einfach die Wahrheit?
Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit, zurück zu dem Tag, als sie die beiden Freunde aus Deutschland das erste Mal gesehen hatte. Neunzehn war sie damals gewesen und sehr gespannt auf die jungen Deutschen, die für einige Zeit bei ihnen im Teegarten von Geestra Valley zu Gast sein sollten …
Darjeeling – Geestra Valley
April 1930
Kathryn trug an diesem Nachmittag ein kornblumenblaues Kleid, das ab der Hüfte in Falten gelegt war und recht gewagt kurz unterm Knie endete, darüber eine dunkelblaue Strickjacke aus der Wolle von Tibet-Antilopen, die noch feiner war als Kaschmir. Sie hatte ihren kastanienbraunen Bubikopf frisch gewaschen und die dunkelblauen Riemchenschuhe geputzt. Ihre Wangen glühten vor Aufregung.
Es war ein kühler, klarer Apriltag. Doch verhängten wie meist Wolken die schneebedeckten Gipfel des Himalayagebirges. Schade, dachte Kathryn, dass die beiden Deutschen dieses Schauspiel nicht gleich zu sehen bekommen – der Anblick hatte bislang jeden noch so weit gereisten Besucher überwältigt. Die Männer planten nach dem geschäftlichen Teil eine private Forschungsexpedition durch Sikkim, das an Darjeeling angrenzende kleine Königreich. Kathryn beneidete sie glühend um ihr bevorstehendes Abenteuer.
Wie mochten sie wohl aussehen? O Gott, sie fühlte sich so kribblig! Die Melancholie der vergangenen Tage war wie weggeblasen.
Dass die Ankunft sich bereits um zwei Stunden verspätet hatte, musste nichts bedeuten. Kathryn atmete tief durch. Die First-Flush-Pflückung, die erste Teeernte des Jahres, hatte einige Tage zuvor begonnen. In der kristallklaren Luft lag der Duft, den sie über alles liebte – ein Duft wie nach allerfeinstem frischem Heu. Er drang aus den lang gestreckten Hallen, wo nur die zartesten Blätter und Blattknospen der Teesträucher auf luftigen Drahtförderbändern trockneten.
»Sie kommen, sie kommen!«, kündigten zwei dunkelhäutige Kinder an.
Alle Pflückerinnen, Arbeiter und deren Familien, die gerade noch aufgeregt auf dem Platz vor dem Haupteingang zum Geestra-Valley-Teegarten in mindestens fünf Sprachen durcheinandergeschwatzt hatten, verstummten und nahmen Haltung an. Vorne in der ersten Reihe erwartete Kathryn die Besucher neben dem indischen Manager und Stellvertreter ihres Vaters, Mr Brooks. Ihr Vater, der britische Teepflanzer Aldous Whitewater III ., war am Tag zuvor mit seinem Chauffeur Tinley im Lieferwagen in die Stadt Darjeeling aufgebrochen. So konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – die ersten Proben First Flush für einen Sammeltransport zur Teeauktion nach Kalkutta auf den Weg bringen und die jungen Männer in Empfang nehmen, die mit dem Toy Train anreisen
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