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Die Rose von Darjeeling - Roman

Die Rose von Darjeeling - Roman

Titel: Die Rose von Darjeeling - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Lott
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»Ich glaube, mit Kathryn wäre ich ein besserer Mensch geworden …«
    Er sah, wie sich Carls Augen verdunkelten.
    Beide schwiegen eine Weile.
    Gustav sprach als Erster. »Wir müssen jetzt neu anfangen.«
    »Ja. Das müssen wir.«
    Wieder stockte das Gespräch. Gustav betrachtete seinen alten Freund. Mehr noch als der Anblick der ausgemergelten Gestalt erfüllte ihn dessen traurige Ausstrahlung mit Entsetzen und Mitleid. Ihm, Gustav, war ein Unterschenkel abhandengekommen, schlimm genug, aber Carl fehlte etwas, das immer seine Persönlichkeit ausgemacht hatte – seine unerschütterliche Zuversicht.
    »Du könntest mir beim Neuanfangen helfen«, sagte Gustav.
    »Wie?«
    »Du weißt, dass die Amis die Entnazifizierung sehr viel strenger betreiben als die Engländer«, Gustav schnitt eine Grimasse. »Ihr habt Glück mit den Tommys in Niedersachsen.« Es war ein offenes Geheimnis, dass die britische Militärregierung nur noch die ganz schweren Fälle verfolgte. »Aber in Bremen, wo ich ja nun leider vor ein paar Jahren meinen ersten Wohnsitz hinverlegt hab, bestimmen die Amerikaner. Und die wollen mich als ehemaligen Wehrwirtschaftsführer drankriegen.«
    Carl pfiff durch die Zähne. Daher wehte der Wind! »Verstehe, ich soll dir einen Persilschein ausstellen …«
    »Ja, verdammt! Ich krieg kein Bein an Land – welch treffender Ausdruck –, solange das Entnazifizierungsverfahren gegen mich läuft. Und wenn’s schlecht ausgeht, erst recht nicht.« Er wollte endlich wieder seriös als Geschäftsmann arbeiten. »Schreib mir doch ein paar Zeilen«, bat er Carl. »Dass ich kein Nazi war, sondern ein anständiger Mensch, und dass ich deinen Vater vor dem KZ bewahrt habe.«
    Carl lächelte unfroh. Endlich war es einmal umgekehrt – er musste Gustav retten. Ein bisschen ließ er ihn zappeln, merkte aber, dass er dieses Gefühl nicht genießen konnte.
    »Klar, das kann ich dir schwarz auf weiß geben.«
    »Danke, alter Kumpel.«
    Carl sah die Erleichterung in Gustavs Augen. Ihm war, als fiele jetzt ein Stück der Gipshaut von seinem Herzen ab.
    Mit einer Kopfbewegung wies er auf das Holzbein seines Freundes. »Scheiße, das …«
    Gustav klopfte drauf. »Hab mich damit abgefunden. Berge erklimmen is’ natürlich nich’ mehr.« Er sah den leeren Blick seines Freundes. »Andere hat’s schlimmer getroffen.«
    »Tja. Gesine sagt, ich soll nicht so ein Theater um ein paar Sträucher machen. Aber ich kann’s nicht mehr wiederholen. Die Kraft und die Zeit hab ich nicht. Die ganzen Jahre – einfach futsch, vergeudet …«
    Die Sonne kam durch, sie warf ihr Licht an die holzverkleidete Wand und aufs Parkett. Die Kinder spielten draußen Räuber und Gendarm, ein Singvogel tirilierte sein Lied. In Gustavs Innerem legte sich in diesem Moment ein Schalter um.
    »Tja, mein Lieber«, er grinste und imitierte den Singsang indisch sprechender Inder. »Du keine Rhodos, ich keinen Nachfolger, wir beide keine Kathryn.«
    Was sollte dieser plötzliche Stimmungswandel? Carl sprang auf. »Arschloch!«
    »Carl, Carl, Carl!«, rief Gustav aus. »Schreib mir den Wisch für die Amis, und dann mach dich klar. Wir beide unternehmen gleich eine Spritztour nach Leer. Mensch, Junge, wir leben! Es ist doch endlich tiefster Frieden!« Er stand auf und schob den verdutzten Freund in Richtung Schreibtisch. »Los, mach schon.«
    Als sie wenig später mit Gustavs holzbefeuertem Spezialauto durchs Ammerland in Richtung Ostfriesland tuckerten, sang Gustav lauthals Ausgerechnet Bananen. Carl dachte: Nun ist er komplett übergeschnappt. Er fühlte sich immer noch isoliert von allem, eingesperrt in den längst überflüssigen Schutzpanzer. Darinnen erreichten ihn allerdings immer vernehmlicher Klopfzeichen. Gustav schmetterte nun Ich wollt, ich wär’ ein Huhn.
    Die Lebenslust des verrückten Beinamputierten an seiner Seite blieb nicht ohne Auswirkung auf Carls Gemüt. Als würden Hühner gegen eine Gipshülle picken, dachte er. Seltsames Bild. Wie kam er bloß darauf? Ach, Max und Moritz! Zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte er.

Ostfriesland
    1947 bis 1950
    In Leer hielten sie vor dem ter-Fehn-Stammhaus. Gustav führte Carl nicht hinein, sondern außen herum in den Garten.
    »Da, guck, mein Freund. Wie konntest du vergessen, dass du ein Sonntagskind bist?«
    Im Halbschatten großer Bäume am Rande der Rasenfläche wuchsen vier gut einen Meter hohe Rhododendren, übersät mit halb geöffneten scharlachroten Knospen, ein paar auch schon ganz geöffnet!

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