Die Rose von Darjeeling - Roman
Die ersten Besucher an diesem Dienstag trafen ein – König George VI . und seine Frau mit Prinzessin Margaret samt ihrem Tross. Die Königin wies sogar im Vorübergehen auf Carls Rhododendren und lauschte aufmerksam den Erläuterungen ihres Fachbegleiters.
Am Nachmittag war die Ausstellung den Mitgliedern der Royal Horticultural Society vorbehalten. Carl führte Gespräche, tauschte Adressen aus, vereinbarte, Kontakte zu vertiefen. Seine Parzelle war zwar vergleichsweise klein, stieß aber auf großes Interesse. Bill Landsbury, der junge Gärtner, der ihn an allen fünf Ausstellungstagen unterstützen sollte, war ein freundlicher, umsichtiger Mann. Er hatte sich gerade erst selbstständig gemacht und freute sich, dass er die Blumenschau schon einmal von der Ausstellerwarte aus miterleben durfte. Höflich, aber kompetent erteilte er Auskünfte, wenn Carl Jonas in ein anderes Gespräch vertieft war. Nach einiger Zeit bat Carl ihn, allein die Stellung zu halten. Er wollte sich die Gärten draußen noch einmal anschauen, bevor am nächsten Tag der Publikumsansturm über sie hereinbrechen würde.
Wirklich aufregend, eine Augenweide! Die britischen Kollegen trauten sich was: Sie bezogen fantasievoll Teiche oder Wasserspiele und Gartenhäuser vom viktorianischen Teepavillon bis zur modernen Orangerie in ihre Gestaltung mit ein. Carl ging bis zum Zaun, der das Ausstellungsgelände begrenzte. Und dahinter sah er sie stehen, an der Ecke Vincent Square, Elverton Street: Kathryn.
Carl hastete zum Ausgang. Hoffentlich verschwand sie nicht, hoffentlich stieg sie nicht in einen Bus oder in ein Auto ein. Er konnte sie nicht mehr erkennen, Bäume versperrten die Sicht. Carl lief, er rannte zur Kreuzung.
Kathryn war noch da, auf der gegenüberliegenden Seite. Wartete sie auf jemanden? Keuchend blieb Carl stehen, er musste sich beruhigen, ließ sie aber keine Sekunde aus den Augen. Sie sah wunderbar aus. Älter, reifer, schöner. Eine Lady. Sie trug einen hellen, eng taillierten Mantel mit weitem Rock, helle Handschuhe und ein elegantes, durchscheinendes Hütchen. Gerade öffnete sie ihre Handtasche, um ein glänzendes Döschen hineinfallen zu lassen – und stutzte.
Kathryn fühlte sich beobachtet. Sie nahm die Umrisse eines Mannes auf der gegenüberliegenden Straßenseite wahr. Ihr Herz begann, schneller zu pochen. Nur sie allein wusste, weshalb sie schon vor Jahren Mitglied der Royal Horticultural Society geworden war. Zwanzig Jahre könnte es dauern, einen Rhododendron zu züchten, hatte Carl damals gesagt. Es war Wahnsinn. Es war verrückt, völlig versponnen. Und trotzdem. Fast einundzwanzig Jahre waren inzwischen vergangen. Wenn sie sich nicht alles eingebildet hatte, was sie in den letzten zwei Jahrzehnten an Schwingungen, an Liebe zu ihm und von ihm gespürt hatte, nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, oder manchmal einen Impuls wie aus heiterem Himmel – wenn das alles also wirklich gewesen war, dann würde er kommen.
Sie hatte Mr Singh drei neue Kleider anfertigen lassen. Sie hatte am Tag zuvor noch eine Dose Eipulver gegen ein neues Paar Nylonstrümpfe eingetauscht.
Kathryn hob den Kopf. Sie blickte über die Straße direkt in die Augen des Mannes – mondwindenblaue Augen. Und diese Geste, mit der er sich das Haar aus der Stirn schob! Kathryns Beine gaben nach, mit der Rechten suchte sie Halt an einem Laternenpfahl.
Sie öffnete den Mund. Sagte ohne Stimme seinen Namen.
Carl atmete tief ein. Dieses war der Augenblick, auf den er sein ganzes Leben lang hingelebt hatte, nicht nur die letzten einundzwanzig Jahre. Wie in Trance ging er über die Straße, ein Taxifahrer hupte, es kümmerte Carl nicht, er sah nur Kathryn. Die Welt um sie herum versank in unbedeutendem Nebel. Die Fünkchen in ihren Augen flogen ihm entgegen, zogen ihn wie Enterhaken heran.
Kathryn stand da, unfähig, sich zu rühren. Das war Carl, ihr Carl! Ein Mann in den besten Jahren, respekteinflößend, eine stattliche Erscheinung, aber sie wusste doch, welcher jungenhafte Schalk, wie viel Ungestüm in ihm steckte. Und wie viel Liebe … Sie sah sie in seinen Augen.
Jetzt stand Carl vor ihr. Fast so nah wie bei ihrem Abschied im Hotelzimmer in Darjeeling. Als ihre Körper sich beinahe berührten, aber er sie nicht angefasst hatte. Sie erinnerte sich an das quälende Gefühl, das sie zu Recht als Vorbote der kommenden Entbehrungen gedeutet hatte. Kathryn atmete flach. Wieder versuchte sie vergebens seinen Namen auszusprechen. Ihre Augen
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