Die Rose von Darjeeling - Roman
hatte es eilig. Zügig strebte er über die Grünfläche dem Rhododendron entgegen, bei dessen Anblick es in ihm Klick gemacht hatte. Der Busch hob sich mit klaren Konturen gegen einen saphirblau leuchtenden Himmel ab. Der um einige Nuancen dunklere See spiegelte noch Streifen vom hellen Widerschein der untergegangenen Sonne am Horizont. Man konnte das Wasser riechen. Und die Rhododendren.
»Da! Schau mal, riech mal …«, sagte er und blieb stehen.
Verwundert blickte Julia zuerst auf ihn, dann auf den Rhodo. Sie schnupperte und betrachtete aufmerksam die Blüten. »Eine Williamsianum- Hybride, es könnte sich um die Sorte …«
»Halt, keine Expertise!« Er legte einen Finger vor ihren Mund. »Ich möchte, dass du nachvollziehen kannst, was ich hier neulich nachts erlebt habe.« Max lächelte nachsichtig, als Julia misstrauisch die Stirn runzelte. »Sie hat mich zuerst mit ihrem Duft angelockt. Dann stand ich davor und fragte mich: Wie kommen die Blüten da eigentlich hinein – oder heraus? Woher weiß das Gehölz, wie es blühen soll?« Er sah, dass Julia ihm gebannt und mit einem kleinen Lächeln in den Augen lauschte. »Könntest du, Julia, könnte irgendein Mensch oder Unternehmen, das fähigste modernste Hightech-Firmenkonsortium, eine einzige Blüte von solcher Schönheit herstellen? Auch ein Züchter ist nicht Erzeuger, sondern nur Geburtshelfer.«
Das Lächeln verschwand aus Julias Augen. Er meinte es wirklich ernst. Und es stimmte. Ein alter Rhodoexperte, den sie sehr verehrte, pflegte überraschende Züchtungsergebnisse zu kommentieren mit dem Satz: Der Mensch denkt, Gott lenkt.
»Es ist ein Wunder!«, sagte Max, und seine tiefe angenehme Stimme vibrierte. »Der Zauber der Dolden, die lebendige Schönheit … Das Universum spiegelt sich in einem Tropfen, in einer Zelle – und in einer Rhododendronblüte. Dies ist doch der Beweis, dass es Wunder gibt. Auch wenn wir nicht fähig sind, mit unserem kleinen Hirn das große Ganze zu erfassen. Und warum, verdammt noch mal, sollte es dann nicht noch ein paar Wunder mehr geben?«
Julia schluckte bewegt. Max kam ganz nah, er legte zärtlich seine Arme um sie und schaute ihr tief in die Augen. »Ich meine, vielleicht ist es doch möglich, dass uns ein Wunder wie die Liebe begegnet …«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ja, vielleicht gab es sie doch – die echte wahre Liebe. Eine Liebe zwischen Mann und Frau, die glücklich machte. Die ein Leben lang hielt. Die ihre geheime Sehnsucht erfüllte. Julia atmete tief ein und langsam aus. Ihr Blick wurde ganz weich, verletzlich, hoffnungsvoll.
Sie flüsterte: »Ja, das wäre schön …«
Sein Mund kam näher. Aber bevor seine Lippen ihre berührten, passierte es. Ein gemeines Lachen hinter ihnen zerstörte jäh die Magie dieses Augenblicks. Max nahm noch den Gestank von Schweiß und Zigaretten wahr, dann spürte er einen heftigen, schmerzhaften Schlag auf den Hinterkopf. Er verlor das Bewusstsein.
Entsetzt und ohne zu begreifen, was sich abspielte, öffnete Julia den Mund zu einem Aufschrei, doch jemand hielt ihr von hinten eine Hand mit einem intensiv riechenden feuchten Lappen vor Mund und Nase. Dann wurde auch ihr schwarz vor Augen.
London
Mai 1951
Carl blickte über die großen Blumenarrangements im Ausstellungszelt der Chelsea Flower Show. Rhododendren, Azaleen, Hortensien, Lilien in verschwenderischer Fülle. Ein Hochgefühl ergriff ihn. Drei Tage hatten die Vorbereitungen gedauert. Und die Kameradschaft der Aussteller untereinander hatte ihn, den Deutschen, eingeschlossen wie damals in den Zwanzigerjahren, als er in einer Landschaftsgärtnerei hospitiert und das erste Mal die legendäre Schau besucht hatte. Jetzt standen seine eigenen Rhododendronzüchtungen hier. In Töpfen, die vorschriftsmäßig mit Moos überzogen waren, perfekt gestaffelt nach Größe, farblich raffiniert komponiert. Die leuchtenden Blüten der Rose von Darjeeling stachen aus der Gruppe besonders hervor.
Lord Aberconway eröffnete die Ausstellung wie immer mit den Worten, dass sie dieses Jahr besser als je zuvor sei. Carls Brust weitete sich vor Stolz. Er wischte die letzten Erdkrümel vom breiten Revers seines Anzugs. Jetzt gehörte er zu den Beschickern der wichtigsten Gartenbauausstellung der Welt. Und allein für die Ideen, zu denen ihn die Schaugärten auf dem Gelände des Chelsea-Hospitals anregten, hatte sich der kostspielige Ausflug nach London schon gelohnt.
Am Eröffnungstag blieben die Experten noch unter sich.
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