Die Rose von Darjeeling - Roman
füllten sich mit Tränen. Sie löste ihre Hand vom Mast und hob sie. Ganz langsam, zitternd, berührte sie seinen Arm, als müsste sie prüfen, ob er wirklich aus Fleisch und Blut war.
»Ich wusste, dass du kommst …« Sie schwankte.
Carl nahm sie fest in seine Arme. »Fall nicht wieder in Ohnmacht«, raunte er ihr ins Ohr.
Mitglieder der Royal Society, die dem Eingang der Ausstellung zustrebten, tuschelten: War das nicht Lady Taintsworth? Mit einem fremden Mann auf offener Straße?
Kathryn sah und hörte sie nicht. Mit geschlossenen Augen legte sie den Kopf in den Nacken, spürte Carls Atem, seine Arme um ihren Leib. Warm und stark. Noch nie hatte sie ein solches Glück empfunden. Ihr Herz schien wie ein schwerer Kristall, der jetzt zu tausend funkelnden Kristallen auseinandersprengte, die mit Lichtgeschwindigkeit in alle Himmelsrichtungen stoben.
Sie schlug die Augen wieder auf und versank in Carls Blick. Endlich waren sie beide angekommen im wahren, in ihrem richtigen Leben.
Carl winkte ein Taxi herbei und nannte den Namen seines Hotels. Sie sprachen nicht während der Fahrt, mochten sich kaum ansehen. Sie hielten sich nur bei der Hand, bemüht, ihre Fassung zu bewahren.
Es war ein Mittelklassehotel mit mehr Flair als Luxus. Während Kathryn in der Lounge so tat, als studiere sie ein Plakat, schob Carl dem Concierge eine stattliche Pfundnote herüber. »Meine Frau konnte doch kommen und wird mit mir hier wohnen.«
Der Concierge nahm den Schein, ohne die Miene zu verziehen. »Wie erfreulich, Sir. Ich wünsche Ihnen beiden einen angenehmen Aufenthalt.«
In dem nachtblau tapezierten Hotelzimmer, das Dachschrägen und einen Erker mit Sitzecke und Blick auf die Themse hatte, nahm Carl Kathryn den Mantel ab. Sie zog die Hutnadeln und ihr Organzakäppchen vom Haar, legte alles auf einem Mahagonitischchen ab. Ihre Hände zitterten. Carl ergriff sie, trat einen Schritt näher. Es gab so viel, was er ihr sagen wollte.
»Kathryn!«
»Carl …«
Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, reckte sich ihm auf Zehenspitzen entgegen, drückte ihre Wange gegen seine. Langsam drehte er den Kopf und berührte mit seinen Lippen ihren Mund.
Sie stöhnte auf vor Sehnsucht. Und dann küssten sie sich, und küssten sich und küssten sich.
Sie fielen aufs Bett, und küssten sich und liebten sich und vergaßen alles andere auf der Welt. Sie waren nicht mehr zwei getrennte Lebewesen, sondern wieder vereint – so wie es die Natur oder Gott oder wer auch immer am Anfang aller Zeiten bestimmt hatte.
Nach dem ersten Rausch der Leidenschaft lag Kathryn ermattet auf Carl. Er ist meine Insel, dachte sie, mein Kontinent. Ich lasse mich von ihm tragen. Ihr Bauch auf seinem, ihre Beine auf seinen, ihr Gesicht an seinem pochenden Hals. Sie hob ein wenig den Kopf, liebkoste mit den Lippen sein Ohr.
»Du hast mir so gefehlt.«
Er umschloss sie und drehte sie, ohne den Blickkontakt zu verlieren, auf die Seite. Eng umschlungen sagten sie sich Sätze, die Menschen verändern und die Welt aus den Angeln heben können.
»Ich liebe dich, Kathryn!«
Geflutet von Glücksgefühlen flüsterte sie: »Und ich liebe dich!«
Sie sprachen wenig. Nichts Belangloses sollte diese gewichtige Botschaft, diesen heiligen Moment entweihen.
»Jeden Tag hab ich dich vermisst.«
»Mir ging es doch genauso.«
Sie ließen sich Zeit. Seufzten selig. Staunten.
»Endlich fühl ich mich wieder ganz.«
Unter Kathryns modernem französischem Parfüm erschnupperte Carl ihren eigenen unverwechselbaren Duft, nach dem er sich so gesehnt hatte. Sie küsste seine Mundwinkel, seine Lippen, so süß und verheißungsvoll, dass es gleich wieder zu prickeln begann. Warum reden, warum denken …
Sie liebten sich noch einmal. Ihre Körper erinnerten sich. Sie erklommen Gipfel, die zwei Jahrzehnte lang nur ferne abstrakte Erinnerung gewesen waren. Alles war wieder da und doch ganz neu und mit Worten nicht zu beschreiben – die Lust, die Verzückung, das Zerfließen und Verschmelzen.
Lange lagen sie dann wieder einander gegenüber und schauten sich einfach nur an. Carl mochte ihre Lachfältchen, er mochte auch die anderen Falten. Beweise für Vertiefung, für Erfahrung. Wie doch innere Werte, wie Güte und Kultiviertheit mit der Zeit einen Menschen auch äußerlich prägten! Sie hatte immer noch diese niedlichen Grübchen. Sein Zeigefinger glitt über die Konturen ihres Gesichts, als wollte er sie malen.
»Früher warst du hübsch. Heute bist du schön.«
Kathryn lächelte
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